Der Wein in Goethes Werk (2)

Ein önologischer Spaziergang

von Heinz Rölleke

Foto © Frank Becker
Der Wein in Goethes Werk (2)
 
Von Heinz Rölleke
 
Auch in Dichtungen aus der Zeit von Goethes italienischer Reise bilden Wein und Liebe eine - wenn auch häufig nur versteckt vorgestellte - Einheit. Dafür ein Beispiel, was die germanistischen Interpretationen bis heute nicht erkannt haben. Eine der Römischen Elegien erzählt von einem Rendezvous, zu dem ein römisches Mädchen den Dichter für die folgende Nacht eingeladen hat, dessen Zeitpunkt aber noch zu bestimmen ist. Man sitzt in Gesellschaft beisammen, so daß eine heimliche Verständigung der Liebenden nicht möglich erscheint. Da ergreift das Mädchen die Initiative, indem sie scheinbar gedankenlos mit dem Finger in dem auf der Tischplatte vergossenen Wein spielt:
 
         Meinen Namen verschlang sie dem ihrigen; immer begieriger
          Schaut ich dem Fingerchen nach, und sie bemerkte mich wohl.
         Endlich zog sie behände das Zeichen der römischen Fünfe
          Und ein Strichlein davor.
 
Was die Interpreten bislang übersehen haben, ist daß die Berufung der Zahl Fünf (die hier mit der römischen Ziffer „V“ eingebracht ist), ein eindeutiges Zeichen für die Erwartung handfester Erotik ist, denn die Fünf gilt seit der Antike als Erotik- und Hochzeitszahl - das wußten aber zu Goethes Zeiten und auch heute nur wenige Kenner. Bezeichnenderweise mit Wein als Schreibmaterial wird eigens auf diese Fünf abgehoben, auch wenn dadurch zunächst der Irrtum in Kauf genommen wird, das Rendezvous solle um fünf Uhr früh sein, obwohl von Anfang an die vierte Stunde nach Mitternacht ausersehen ist.
 
Noch der späte Goethe beruft die Fünf in derselben Bedeutung, jetzt aber unter ausdrücklicher Ausschaltung des Weins – es scheint, als ob sich der alte Herr den Doppelgenuß von Liebe und Wein nicht mehr zumuten möchte oder kann. Am 4. August 1823 schreibt der 74jährige Dichter, der sich in Marienbad frisch und heftig in die 18jährige Ulrike von Levetzow verliebt hatte, an seine Schwiegertochter Ottilie:
 
Ich gelangte erst um Mitternacht zu Hause, woraus du erraten wirst, daß außer Tanz, Tee, Abendessen und vor allem Champagner, wovon ich nichts mitgenoß, sich noch ein Fünftes müsse eingemischt haben, welches auf mich seine Wirkung nicht verfehlte.
 
Wer oder was sich hier als „das Fünfte“ eingemischt hat, das ist natürlich die erotische Neigung zu dem jungen Mädchen, die den Dichter alle andern Genüsse übergehen läßt. Ist aber keine Erotik im Spiel, dann bleibt dem Alternden natürlich der Wein, wie es Goethe selbst sagt:
 
                   Trinkt sich das Alter wieder zur Jugend,
                   So ist es wundervolle Tugend.
 
In der vorausgehenden leidenschaftlichen Liebe des damals 65jährigen zu Marianne von Willemer, der Suleika in den Gedichten von Goethes „Westöstlichem Divan“, waren Wein und Liebe noch untrennbar verbunden. Im „Divan“ wird daraus sogar ein Programm gemacht:
 
                   Solang man nüchtern ist, gefällt das Schlechte;
                   Wenn man getrunken hat, weiß man das Rechte.
                   Nur ist das Übermaß auch gleich zuhanden:
                   Hafis, o lehre mich, wie du’s verstanden!
                   Denn meine Meinung ist nicht übertrieben:
                   Wenn man nicht trinken kann, soll man nicht lieben;
                   Doch sollt ihr Trinker euch nicht besser dünken:
                   Wenn man nicht lieben kann, soll man nicht trinken.
 
Bekanntlich hat Goethe seinen geliebten Wein nicht nur in Verbindung mit der Liebe besungen, sondern quasi zu allen Gelegenheiten. 1810, in seinem Lied „Hier sind wir versammelt zu löblichem Tun“ lautet der Refrain zu allen fröhlichen und traurigen Begebenheiten: „Drum Brüderchen: Ergo bibamus!“
 
Erst der Wein macht den Menschen zum Menschen – so führt es Goethe 1814 in seinem Gedicht „Erschaffen und Beleben“ aus:
 
                   Herr Adam war ein Erdenkloß...
                  
Und erst „Noahs Wein“ macht aus dem „Klumpen“ einen richtigen Menschen:
 
                   Der Klumpe fühlt sogleich den Schwung,
                   Sobald er sich benetzet.
        
„Benetzet“ – natürlich mit dem gerade vom Menschen selbst entdeckten Wein.


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