Genau so … funktioniert das Leben

Tine Høeg – „Tour de Chambre“

von Frank Becker

Genau so …
 
… funktioniert das Leben
 
Tine Høeg hat zwei Jahre nach ihrem großartigen Debüt mit „Neue Reisende“ in ihrem einzigartigen Telegramm-Stil einen neuen Roman vorgelegt, der nicht nur dem Vorgänger in nichts nachsteht, sondern die gespannten Erwartungen auf ihr zweites Buch hinreißend erfüllt. Wieder schafft sie es mit ungeheurem Raffinement ihre Leser in „Tour de Chambre“ – auf jeden Fall mich – mit unprätentiöser Sprache unmittelbar ins Buch und zeitversetzte Geschehen hineinzuziehen, zum Augen- und Ohrenzeugen zu machen und intensiv Mitgefühl wie Mitleiden mit ihrer Protagonistin Asta, aber auch mit den wichtigen Nebenfiguren zu schaffen.
 
Wir erleben den Einzug einer jungen Frau in eine studentische Wohngemeinschaft, die mehr als nur Zweck-WG ist, sondern schnell vertraute und vertrauensvolle Lebensgemeinschaft wird. Asta, die für die Dichtung lebt und Schriftstellerin werden möchte, gewinnt dort gute Freunde, sogar fürs Leben wie im Fall ihrer Freundin Mai. Sie lernt die Eigenheiten und Marotten ihrer Mitbewohner kennen und die Organisation des WG-Alltags. Es sind dabei die kleinen Dinge, die Küchengespräche und die gemeinsamen Unternehmungen, die Tine Høeg so echt und wahr stattfinden läßt, daß man sich Szene für Szene, SMS für SMS einbezogen fühlt. Genau so funktioniert das Leben. Turbulente Feste festigen die Freundschaft, die Nähe zueinander sorgt aber gelegentlich auch für prickelnde, aufregende erotische Anziehung, Liebesbeziehungen  und verbotene Leidenschaft. Tine Høeg weiß all das und Astas persönliche Entwicklung hautnah, dabei aber auch unaufdringlich zu erzählen, daß nie Grenzen überschritten werden. Der häufige Wechsel der Zeitebenen läßt das vor zehn Jahren geschehene mit dem Heute elegant ineinanderfließen – die Orientierung verliert der Leser aber nicht. Der dramatische Tod des für Asta wie für Mai so wichtigen Freundes August wird durch eher zurückhaltende Einschübe, leise Erwähnungen und ohne ihn zu überhöhen zum starken Bindeglied der Freundinnen.
 
Es ist übrigens ein sehr dänischer Roman, man fühlt sich als DK-Freund wohl zwischen IRMA, Netto und Superbrugsen, zwischen Zimtgebäck und Hindbærtærte, Hamburgerryg und Rullepølse. Vor allem aber in der ungezwungenen dänischen Lebensart. Tine Høeg schafft, was William Faulkner von Schriftstellern verlangt: „Schreib den ersten Satz so, daß der Leser unbedingt auch den zweiten lesen will.“
Tour de Chambre ist in Dänemark ein Bestseller. Ich wünsche es Tine Høeg auch hierzulande. Der herrliche Roman ist sehr zu empfehlen und hat unser Prädikat, den Musenkuß verdient.
 
Tine Høeg – „Tour de Chambre“
Roman
Aus dem Dänischen von Gerd Weinreich
© 2022 Literaturverlag Droschl, 298 Seiten, gebunden, Fadenheftung - ISBN: 9783990591185
 
Weitere Informationen: www.tinehoeg.net  -  www.droschl.com