Die Schoah ein nationales Projekt williger Vollstrecker?

Shulamit Volkov – „Deutschland aus jüdischer Sicht – Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“

von Johannes Vesper

Die Schoah ein nationales Projekt
williger Vollstrecker?
 
Deutschland aus jüdischer Sicht
 
Auf 336 Seiten die Integrationsgeschichte der Juden in Deutschland, ihren Beitrag zur deutschen Kultur und zur Entwicklung der Demokratie, den Holocaust und die sich daran anschließenden Entwicklungen nach 1945 bis zur Gegenwart darzustellen, ist eine Herausforderung. Shulamit Volkov, emeritierte Historikerin in Tel Aviv, hat sich dieser Aufgabe gestellt. 
 
Schon die dürren Zahlen sind interessant, auf die sich die Darstellung stützt: 1848 galten 50% aller Juden in Deutschland als arm, im Sinne „marginaler Existenzen“, 1870 nur noch 10-15%. Am 1.Weltkrieg nahmen 17% aller deutschen Juden als Soldaten teil, fast genau so viel wie die nicht jüdischen Deutschen (18.5%). Nach den demütigenden Verboten der Nazis ab März 1933 flohen 1933 37000 Juden aus Deutschland, 1934 und 1935 je 22000. Insgesamt hatten Anfang 1932 ca. 500000 Juden in Deutschland gelebt. Infolge der Nürnberger Gesetze und der Pogrome der „Reichskristallnacht“ verließen 1938 40000, 1939 78 000 Juden das Land. Insgesamt flohen 1933-1941 ca. 250000 Juden ins Ausland. 1939 galten noch 0,32% der deutschen Bevölkerung als jüdisch und 1945 hatten 15000 Juden in Deutschland überlebt. 
Natürlich erschöpft sich die jüdische Sicht der Autorin auf Deutschland nicht mit der auf die verbrecherischen deutschen Untaten während der Nazi-Zeit. Dieser Aspekt wird im 4. Teil (Eine verlorene Heimat: 1930-2000) ihres Werkes auf nur 15 Seiten dargestellt. Ihr geht es um größere Zusammenhänge der deutschen Geschichte. Sie holt die jüdischen Aspekte der Geschichte aus ihrem judaistischen Ghetto heraus und behandelt im Gegensatz zur klassischen Geschichtswissenschaft nicht nur Machtpolitik, Kriege, allgemeine Staatsführung oder Nationalstaatentwicklung. Sie strukturiert, sich beziehend auf den Historiker Friedrich Meinecke, die deutsche Entwicklung zur Nation durch vier „nationale Erhebungen“: den Krieg gegen Napoleon, die Revolution von 1948, die Einigungskriege 1864-1871. und den 1. Weltkrieg.
 
Ihre deutsche Geschichte beginnt mit der Aufklärung (1. Teil 1780.1840). Sie hinterfragt den Begriff „Deutschland“, zitiert Friedrich Schiller(1759-1809): „Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf“ (Xenien). Daß „Juden auch Menschen seien“ stellte 1781 Christian Wilhelm Dohm seinem Buch „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ fest und hat damit wahrscheinlich die Versuche zu ihrer Integration in Deutschland gestartet. 
Antijudaismus, der im Vorwurf des Gottesmords gipfelte, verlor im Deutschland des 19. Jahrhunderts vor allem als Reaktion auf Kapitalismus, Industrialisierung und zunehmende Säkularisation an Bedeutung und wandelte sich hin zum Antisemitismus, der zuletzt gar rassisch begründet wurde.
Die Autorin sieht jüdische Geschichte in Deutschland trotz starker und stets manifester antisemitischer Tendenzen bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus als Erfolgsgeschichte und macht klar, daß zur vollen gesellschaftlichen Akzeptanz Toleranz allein und die rechtliche Gleichstellung nicht ausreichte. So nahmen die Juden zwar Teil am ökonomischen Aufstieg infolge der Industrialisierung und Modernisierung, wurden von der kaiserlichen Polizei bei Übergriffen durchaus geschützt und hielten eine Dreyfus-Affäre in Deutschland nicht für möglich, erlebten zuletzt aber doch, daß sie als „Untermenschen“ wieder ausgegrenzt wurden.
Die deutsche Kultur ist ohne Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Felix Mendelssohn-Bartholdy nicht zu verstehen. Moses Mendelssohn vermittelt als Lessings „Nathan“ zwischen den Religionen. Die Geschichte der Familie Liebermann, oder die Auseinandersetzung Bismarcks mit seinem Gegenspieler Itzchak Lasker, der aus Polen gebürtig war, illustrieren ihre jüdische Prägung. Lasker kam über Wien und London nach Berlin, wo er sich im Reichstag mit seinen Vorstellungen einer demokratisch-parlamentarischen Monarchie in einem vereinigten Deutschland mit Budgetrecht beim Parlament als Sprecher liberaler Positionen, als politischer Gegenspieler Bismarcks profilierte. Aber er wollte eben nicht nur ein auf Junckertum, Adel, Militär und Hohenzollern gegründetes, nur vergrößertes Preußen als „deutsches Reich“.
Besonders bewegend lesen sich die Schicksale dreier bedeutender Frauen. Bertha Pappenheim, die Patientin Siegmund Freuds, kämpfte für die Frauenrechte, gegen Frauenhandel unter Juden, und brachte zuletzt bis zu ihrem Tod 1936 jüdische Kinder in Sicherheit. Käte Frankenthal wurde 1914 als einer der ersten Ärztinnen in Deutschland approbiert, bekämpfte als Stadtärztin in Neukölln das damalige gesetzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs, arbeitete für den Bund deutscher Ärztinnen, engagierte sich für die sozialistische Arbeiterpartei, wurde von den Nazis, da „national unzuverlässig“ aus dem Dienst entlassen und verließ als „Jüdin, Sozialistin, Volksvertreterin, emanzipiertes Weib“ Deutschland im März 1933. Hannah Arendt stammte aus Königsberg, hatte ein leidenschaftliche Affäre mit Martin Heidegger, schrieb eine Biographie über Rahel Varnhagen sammelte Informationen über den Antisemitismus in Deutschland, bis sie 1933 nach kurzer Haft aus Deutschland floh. Damit endete „ein Kapitel ihres Lebens und der Geschichte des deutschen Judentums“. Ihre spätere Begrifflichkeit von der „Banalität des Bösen“ ist noch heute aktuell!
 
Die überproportionale Zahl (Albert Einstein, Fritz Haber u.a.) von Juden unter den deutschen Nobelpreisträgern wird gewürdigt. Sozialneid auf erfolgreich integrierte Juden gilt als starke Triebfeder für die Entwicklung von Antisemitismus. 1907 gab es 526 jüdische Rechtsanwälte in Berlin, mehr als die Hälfte aller Anwälte dort. Auch in Wien waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr als die Hälfte der Anwälte, Ärzte und Journalisten Juden. Über den Einfluß der traditionellen jüdischen Bildung auf solche Erfolge kann die Autorin nichts Sicheres berichten Aber auch schon Richard Wagner war neidisch auf seine erfolgreicheren Musikerkollegen Meyerbeer und Felix Mendelssohn Bartoldy und schrieb sich seinen Antisemitismus von der Seele, was die Begeisterung jüdischer Musiker für seine Musik nicht minderte. Beeinflußt von dem „wissenschaftlichen“, rassistischen Ansatz des Arthur de Gobineau sammelten sich Wagnerianer im Bayreuther Kreis mit solch üblen Gedanken, die Houston Stewart Chamberlain in seinen „Grundlagen neunzehnten Jahrhunderts zusammengefasst und verbreitet hat. 
 
Das anspruchsvolle, trotz seines Faktenreichtums elegant geschriebene und mühelos zu lesende Werk bietet auf knappem Raum eine Fülle von interessanten Aspekten, nicht zuletzt auch auf die deutsche Geschichte nach 1945. Der Antisemitismus in der frühen Bundesrepublik, die Auschwitzprozesse, Fritz Bauer und die Aufarbeitung des Holocausts im deutschen Unrechtsstaat -den Begriff kreierte Fritz Bauer- bis hin zur Ehrung der Waffen-SS durch Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Bitburger Soldatenfriedhof und die berühmte Rede Richard von Weizsäckers am 08.05.1985: über all das und mehr schreibt die Autorin trotz knappen Raums mit detailreicher Sachkenntnis und läßt immer wieder Ambivalenz und Widersprüchlichkeit jüdischer Existenz in Deutschland aufblitzen. Trotz und wegen alledem glaubt die Autorin, heute eine „bescheidene Zufriedenheit“ der jüdischen Minderheit hier (0.4% der deutschen Bevölkerung) konstatieren zu können, und beendet ihr Werk damit, daß „diesbezüglicher Optimismus stetige Bemühungen erfordert, aber nicht aussichtslos erscheint“. Stete Anstrengungen sind jedenfalls erforderlich, las man doch aktuell über die „hasserfüllte und kalkulierte“ (Auschwitz Komittee) Zerstörung von sieben Erinnerungsbäumen durch Neonazis nahe Buchenwald, von denen einer gepflanzt worden war zur Erinnerung an 1600 im KZ umgekommene Kinder. 
Ein umfangreiches Register und zahlreiche Anmerkungen erleichtern die Lektüre. 
 
Shulamit Volkov – „Deutschland aus jüdischer Sicht – Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“
Aus dem Englischen von Ulla Höher
© 2022 C.H. Beck, München, 336 Seiten, gebunden, Anmerkungen, Personenregister - ISBN 978-3-406-78171-1
28,-€
 
Weitere Informationen: www.chbeck.de