„Alle Straßen münden in schwarzer Verwesung“

Zum 135. Geburtstag Georg Trakls

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Alle Straßen münden in schwarzer Verwesung“
 
Zum 135. Geburtstag Georg Trakls
 
Von Heinz Rölleke
 
Einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker, Georg Trakl, kam als fünftes von sieben Kindern eines Eisenwarenhändlers und einer drogenabhängigen Mutter am 3. Februar 1887 in Salzburg zur Welt. Die Erziehung oblag einer streng katholischen französischen Gouvernante. Seine Kenntnisse der katholischen Kirche, aber auch seine ersten Begegnungen mit den Dichtungen Arthur Rimbauds und Charles Baudelaires, deren großer Einfluß auf Trakls Lyrik nicht zu übersehen ist, verdanken sich dieser Erzieherin. Seine gymnasiale Schulausbildung brach er 1905 ab, nachdem er insgesamt dreimal das Klassenziel nicht erreicht hatte. Seitdem sind Trakls lebenslänglicher Umgang mit Drogen (Chloroform, Opium, Veronal) und sein starker Alkoholkonsum zu konstatieren. Seit Beginn seiner Lehrzeit in einer Salzburger Apotheke war ihm der Zugang zu diesen Rauschmitteln leicht möglich. 1907 studierte er in Wien Pharmazie bis zum Magister. 1910 trat er in Wien freiwillig in die militärische Sanitätsabteilung ein. Seine Versuche, sich anschließend als Apotheker zu etablieren, schlugen fehl. Immerhin konnte er in dieser Zeit in Innsbruck die Bekanntschaft seines größten Förderers Ludwig von Ficker machen.
 
Seine dichterischen Anfänge seit dem Jahre 1904 fanden erste größere Anerkennung, als der renommierte und für seine verdienstvolle Betreuung junger Dichter bekannte Kurt Wolff-Verlag 1913 seinen Band„Gedichte“ herausgab (posthum betreute der Verlag die Bände „Sebastian im Traum“ und die erste Gesamtausgabe der Dichtungen). Zuvor und auch später noch waren die meisten Gedichte in der Halbmonatszeitschrift „Der Brenner“ erschienen. Karl Kraus und Oskar Kokoschka lernten dadurch den jungen Autor kennen und schätzen. Alsbald gehörten die Dichter Rilke, Hofmannsthal und Else Lasker-Schüler zu seinen Verehrern. Die einzigen größeren Reisen führten ihn 1913 nach Venedig und 1914 nach Berlin, um seiner (mit ihm wahrscheinlich inzestuös verbundenen) Schwester Margarethe nach einer Fehlgeburt beizustehen.
 
Unmittelbar nach Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Trakl als Militärapotheker einberufen. Im September 1914 erlebte er die Schlacht von Grodek als Sanitätsleutnant mit und hatte schließlich über einhundert Schwerstverwundete und Sterbende ohne zureichendes Material allein zu versorgen. In Verzweiflung versuchte er vergeblich sich zu erschießen, wurde in ein Militärhospital eingewiesen und starb am 3. November 1914 an einer Überdosis Kokain. Sein letztes Gedicht hat den lakonischen Titel „Grodek“, dessen zentraler Vers „Alle Straßen münden in schwarzer Verwesung“ auf die aktuelle Situation mit unbestatteten verwesenden Leichen anspielt und zugleich eine Art Resümee der Trakl'schen Welterfahrung ausspricht.
 
Trakls Freund Karl Röck hatte mit dem Dichter seit 1913 zusammengearbeitet und gab nun (1917) seine Erinnerungen in Buchform heraus. Er ließ 1939 und nach dem Zweiten Weltkrieg Ausgaben von Trakls Dichtungen folgen, die aber mangels gesicherter Texte und vor allem durch verkürzte subjektive Auswahl und eine fragwürdige Anordnung für Jahre ein schiefes Licht über die populäre und wissenschaftliche Trakl-Rezeption warfen. Das änderte sich erst einige Jahre später durch wissenschaftlich verantwortete Ausgaben.
 
Die ersten Versuche in der Nachkriegszeit, sich dem von den Nazis verfemten Dichter angemessen zu nähern, gingen oft in die Irre. So setzte sich das Vor- und Fehlurteil fest, seine Lyrik sei nicht nur hermetisch, sondern auch ohne Klarheit geschaffen und biete in der Regel nur wunderschöne Klänge ohne faßbaren Sinn. Dabei hatte man auch das Gedicht „Rondel“ im Blick (das durch die Schreibung des Titels eindeutig unter dem Einfluß der französischen Tradition steht, was man lange nicht erkannte):
 
                        Verflossen ist das Gold der Tage,
                        Des Abends braun und blaue Farben:
                        Des Hirten sanfte Flöten starben
                        Des Abends blau und braune Farben
                        Verflossen ist das Gold der Tage.
 
Ein die vorgegebenen Formen genau erfüllendes Gedicht, das mit großem dichterischen Talent und bewußt genauester Wortwahl in wunderbarer Sprache meisterhaft genannt werden darf, so daß es die Erklärungen, auch hier seien angeblich nur sinnlose Reihungen schöner Begriffe und Assoziationen, gänzlich falsifiziert. Der perfekt symmetrische Aufbau, die Beschränkung auf nur zwei Reime mit leicht variierten Verswiederholungen, die von der strengen Formvorgabe geforderte Rückkehr des Schlußverses zur Eingangszeile sprechen eine andere Sprache. Die hohe Kunst, ein Gedicht in deutscher Sprache zu verfassen, gänzlich ohne ein einziges Mal den Vokal „e“ zu betonen (die betonten Vokale sind acht „a“, je vier „o“ und „u“, drei „i“ sowie ein „ö“), die Platzierung des Leitwortes „sanft“ genau in der Mitte des Gedichts und in einer eine leise Melancholie artikulierenden Zeile - all das ist nicht genug zu bewundern.
 
Ansonsten wird die Lyrik Trakls durch existenzielle Themen bestimmt, die fast immer an den gleichen Phänomenen vorgestellt und verdeutlicht werden. Der Einfluß des Expressionismus ist stets nur in Ansätzen spürbar; Trakls Sprache bleibt singulär und gänzlich unverwechselbar.
 
                        Winterdämmerung
 
                        Schwarze Himmel von Metall,
                        Kreuz in roten Stürmen wehen
                        Abends hungertolle Krähen
                        Über Parken gram und fahl.
 
                        Im Gewölk erfriert ein Strahl,
                        Und vor Satans Flüchen drehen
                        Jene sich im Kreis und gehen
                        Nieder siebenfach an Zahl.
 
                        In Verfaultem süß und schal
                        Lautlos ihre Schnäbel mähen
                        Häuser dräu'n aus stummen Nähen;
                        Helle im Theatersaal.
 
                        Kirchen, Brücken und Spital
                        Grauenvoll im Zwielicht stehen.
                        Blutbefleckte Linnen blähen
                        Segel sich auf dem Kanal.
 
Schon die Überschrift zeigt Verwandtschaft mit der neuen zeitgenössischen Poesie: Die Bilder und Begriffe werden bewußt mehrdeutig gesetzt. „Winterdämmerung“ kann im Jahresablauf das Verdämmern in die Zeit der Erstarrung und Unfruchtbarkeit meinen, im Tagesablauf eine Morgen- sowohl wie eine Abenddämmerung berufen. Auch erinnert der Titel nicht zufällig an Wagners Oper „Götterdämmerung“, deren Thema der Untergang einer Menschengeneration wie der Götter ist. Alles ergibt einen Sinn.
 
Der elliptische Eingangssatz (ohne Prädikat) leitet starr und blockhaft eine scheinbar unzusammenhängend gebildete Motivkette ein; dem entspricht in der Folge formal die starr durchgehaltene Reimführung (ausschließlich „a“ als einsilbig-männliche und „-e-hen“ als zweisilbig-weibliche Kadenz). Das Bild eines lastenden Himmels, der die Menschen unentgehbar einschließt, begegnet häufig im Expressionismus. Trakl steigert das Motiv: Der Himmel ist bedrohlich „schwarz“, und sein Metall trennt endgültig zwischen Diesseits und Jenseits; die Transzendenz ist unmöglich geworden. Die unter dieser dunklen Himmelsdecke erscheinenden Krähen fliegen nicht selbstbestimmt, sondern sie werden von Satans Flüchen hinunter„geweht“. Sie sind die einzigen Lebewesen in diesem Gedicht. Als Aasfresser gelten sie traditionell als Totenvögel. Hier wühlen sie in „Verfaultem“, in Kadavern von Tieren und Menschen. Das Mähen ihrer Schnäbel erinnert an den personifizierten Tod als Sensemann. Unter dem „schwarzen“ Himmel zeigen sich „rote“ Stürme; es sind die Katastrophenfarben des Expressionismus. Daß die Krähen von Satans Flüchen geleitet werden, erinnert an Motive der neutestamentarischen Apokalypse, wo Satan als Antichrist auftritt und „das Zeichen des Menschensohns“, nämlich das Kreuz, am Himmel erscheint (Matth. 24.30). Es sind sieben Krähen, entsprechend der beherrschenden Zahl in der Offenbarung des Johannes (Öffnung der sieben Siegel des Schreckens und die Zeichen der sieben Posaunen beim Untergang der Welt im Feuer; auch „im Gewölk erfriert ein Strahl“ ist biblisch vorgeprägt: „In diesen letzten Tagen werden Sonne und Mond ihren Schein verlieren“ (Matth. 24.29). Schauplatz des Gedichts ist eine große Stadt, wofür die genannten Motive sprechen: Es werden Parks, Häuser, Theater, Kirchen, Brücken, ein Spital und ein Kanal genannt. Sie sind ausnahmslos negativ konnotiert. Die Parks sind kahl, von fahlem Dämmerlicht umgeben; aus den Häusern hört man keinen Laut, so daß sie leer und bedrohlich wirken und sind; Kirchen, Brücken und Krankenhaus erscheinen nicht in ihren traditionell positiven Funktionen, sondern sie stehen unbelebt mitten im Grauen, das sie umgibt und das sie zugleich selbst ausstrahlen. Einzig das Theater strahlt „Helle“ aus. Dieses Faktum wird von den meisten Interpreten als Zeichen der Hoffnung inmitten des umfassenden Untergangs gedeutet: Die Kunst sei vom allgemein herrschenden Grauen unberührt, gleichsam ein Zeichen des Überlebens. Wenn die Helle aber nur im „Saal“ des Theaters, also im Raum des Publikums, erkennbar wird, meint das wohl, daß das Spiel auf der Bühne vorbei ist; auch die Kunst ist untergegangen. Der Zuschauerraum scheint so menschenleer zu sein wie die ganze Szenerie des Gedichts.
 
Die beiden Schlußzeilen erweisen, wie meisterhaft Trakl die neuen Stilmittel des Expressionismus beherrscht und sie individuell

Georg Trakl
weiter entwickelt: Er verbindet Krankenhaus und Kanal mittels einer so genannten Primären Setzung, die zwar den intendierten „wie“-Vergleich noch erkennen läßt, Comparatum und Comparandum aber ununterscheidbar und damit identisch macht. Man kann lesen: Die weißen Segel auf dem Kanal sind blutbefleckt wie die Linnen des Krankenhauses, aber auch: Die Linnen des Krankenhauses zeigen rote Flecken wie rot aufgemalte Zahlen auf den Segeln (an 'Tomatensonne' vs. 'Sonnentomate', einer einfacheren Primären Setzung, erläutert: Die Sonne ist rot wie eine Tomate, die Tomate ist rot wie die Sonne - es ist ununterscheidbar, was mit wem verglichen wird).
 
Das Gedicht ist von äußerster Geschlossenheit, Formstrenge und Knappheit. Die blockhaft und unentgehbar wirkende Form entspricht dem ausweglos grauenvollen Bild der „Winterdämmerung“ und der schonungslos harten Sprache vollkommen: ein Höhepunkt des formalen Könnens Trakls. Die gestalterische Vollendung dieser Strophen vermittelt keine ästhetische Freude mehr wie etwa das frühere Gedicht „Rondel“, denn die gehämmerte Form ist alles andere als Selbstzweck, vielmehr macht sie einen wesentlichen Teil der schrecklichen Vision aus.
 
Im Gesamtwerk begegnen nur wenige hoffnungs- und trostvolle Visionen, die man Trakl meist gänzlich abspricht, obwohl sie eindeutig als kleine Licht- und Heilszeichen in einer dunkel und gottlos gewordenen Welt zu verstehen sind.
„Daß der Mensch Gerechtes schaut und Gottes tiefe Freude“, „Menschheit fügt das erlösende Haupt“, „Gott in deine milden Hände legt der Mensch das dunkle Ende“, „Strahlender Arme Erbarmung umfängt ein brechendes Herz“, „Da erglänzt in reiner Helle auf dem Tische Brot und Wein“. Es ist die „Möglichkeit des Besseren“, von der Adorno spricht, „die im ungemilderten Bewußtsein der Negativität“, im Dunkel allen Grauens zuweilen doch verschleiert anwesend ist.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022