Ein Blick! Das Schicksal ist bereit.

"In die Augen geschaut" - Eine Lyrik-Anthologie

von Frank Becker
Ihr Augen...

Der Spiegel dieser treuen, braunen Augen
Ist wie von innerm Gold ein Widerschein;
Tief aus dem Busen scheint ers anzusaugen,
Dort mag solch Gold in heilgem Gram gedeihn.
In diese Nacht des Blickes mich zu tauchen,
Unwissend Kind, du selber lädst mich ein -
Willst, ich soll kecklich mich und dich entzünden,
Reichst lächelnd mir den Tod im Kelch der Sünden!

Diese Zeilen von Eduard Mörike (1804-1875) aus seinem "Maler Nolten" sagen viel über die Macht, die Magie der Augen. Über das Auge finden wir stummen Zugang zu unserem Gegenüber, das Auge verrät oft mehr, als es Worte vermöchten. Blicke können sprechen, fragen, liebkosen, strafen (manche sagen gar, sie können töten). Georg Rodolf Weckherlin beschreibt das schon im 17. Jahrhundert akkurat. Da liegt es auf der Hand, daß sich die Lyrik intensiv mit den Augen und ihrer unwiderstehlichen Anziehung beschäftigt. Die Germanistin Gabriele Sander hat aus dem unerschöpflichen Vorrat an Augen-Poesie ein paar Hände voll geschöpft und wie schon zuvor ihre "Herzgedichte" nun als Anthologie beim Reclam Verlag veröffentlicht: "In die Augen geschaut".

Auch Heinrich Heine (wie auch nicht?) hat sich des Themas mit dem von ihm gewohnten Herzblut angenommen, indem er schreibt:
(...) Und hast die schönsten Augen -/ Mein Liebchen, was willst du mehr?/ (...) Auf deine schönen Augen/ Hab ich ein ganzes Heer/ Von ewigen Liedern gedichtet -/ (...) Mit deinen schönen Augen/
Hast du mich gequälet so sehr (...)
Vom Hohelied Salomos "Deine Augen sind wie die Teiche zu Hesbon am Tor Bathrabbims" bis August Stramm: "Augen blitzen/Dein Blick knallt auf"  - die Liebesmacht der Augen wird zur Laute oder zum schrillen expressionistischen Ambiente besungen.

Doch Gabriele Sander zieht den Kreis weiter: von Gottfried Kellers ewig gültigen Versen "Augen, meine lieben Fensterlein,/ Gebt mir schon so lange holden Schein,/ Lasset freundlich Bild um Bild herein:/ Einmal werdet Ihr verdunkelt sein!" (...) und Goethes Plotin-Rezeption "Wär nicht das Auge sonnenhaft/ Die Sonne könnt es nie erblicken; (...)" bis Peter Maiwalds "Ich habe dem Tod ins Auge geblickt./ er nahm mich wahr. Er hat genickt. (...)" spannt sie den Bogen der lyrischen Wahrnehmung der Augen, der Blicke. 102 Gedichte von 86 Autoren hat sie in zwanzig Kapiteln zu verschiedenen Themenbereichen, u.a. "göttliches Auge, "Sehnsucht nach zwei Augen", "Abschiedsblicke", "Müde Augen u.a.m. zusammengestellt. Robert Walser, Michael Zeller und Karl Otto Mühl sind dabei, Ernst Jandl und Max Dauthendey, Erich Fried und Christian Morgenstern, Andreas Gryphius, Hermann Broch und Hugo von Hofmannsthal.

Blick-Begegnung

Ein Blick!
Ein grüßen, Schmachten, Gleißen,
Ein Wiedersehen von Sternenzeiten her...
   Die Straße strömt,
   Das Schicksal ist bereit.
Ein rasches heißes Voneinanderreißen!
Matt rückgewandt ein: Noch, noch ist es Zeit!
Und jetzt: Nie mehr!

(Franz Werfel)


Foto © Frank Becker


Beispielbild
Inges: Die große Odaliske (Ausschnitt)

In die Augen geschaut
Gedichte

herausgegeben von Gabriele Sander

© 2008 Philpp Reclam jun.
RUB 18573
136 Seiten, Broschur
3,60 €

Weitere Informationen unter:


Heute Abend lesen die Schauspieler Andrea Witt und Bernd Kuschmann im Literaturhaus Wuppertal
aus "In die Augen geschaut".