Gespräch mit dem Hund

von Joachim Klinger

Foto © Frank Becker
Gespräch mit dem Hund
 

Als er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte und eintrat, kam ihm die Luft stickig vor. Der Hund folgte ihm schwerfällig und blieb abwartend im Flur stehen. Der Mann stieß die Tür zur Küche auf, öffnete das Fenster und machte sich am Kühlschrank zu schaf­fen. Eine Flasche Bier in der Hand, ließ er sich auf den schäbigen Ledersessel fallen, der jahrelang im Wohnzimmer gestanden hatte. Herta hatte sich damals gegen seinen mäßi­gen Widerstand durchgesetzt und den Ledersessel nach Ankauf der neuen Polstergarni­tur aus dem Wohnzimmer verbannt. Neben dem alten Schrank in der geräumigen Küche war noch Platz. Da stand er nun, einladend und bequemer als zuvor.
Der Hund kam langsam heran, wedelte mit dem Schwanz und suchte den Blick des Mannes. Der hatte inzwischen getrunken, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und erhob sich.
Du hast auch Durst, verstehe.
Er füllte eine kleine Emailleschüssel mit Leitungswasser und stellte sie vor dem Kühl­schrank nieder.
Der Hund blickte dankbar empor, ging auf die Schüssel zu, schnupperte einen winzigen Augenblick und begann dann genießerisch mit seiner langen rosigen Zunge zu schlab­bern. Der Mann sah ihm zu.
Es war warm auf dem Friedhof, richtig schwül. Merkwürdig schwül, und wir haben doch erst März. Du mußtest im Wagen warten. Dort war es wahrscheinlich noch wär­mer. Aber Hunde dürfen nicht mit auf den Friedhof. Könnten an ein Grab pinkeln oder vielleicht ein Loch wühlen. Auf der Suche nach verscharrten Knochen. Na, das wäre was!
Warum gehe ich zum Friedhof? Das Grab bedeutet mir nichts. Aber Herta ist noch nicht lange tot. Anfangs waren viele Blumen da. Man möchte nicht, daß das Grab plötzlich vergessen aussieht. Andere schmücken die Gräber auch mit Blumen. Ein bißchen Pflege muß sein. Das gehört sich so. Das verstehst du nicht. Vielleicht ist dir der Blumenduft auch manchmal zu stark. Weißt du noch, wie ich dich einmal an einem Blumenstrauß für Herta riechen ließ? Mein! Gott, was hast du geniest!
Als Herta jung war, habe ich ihr oft Blumen geschenkt. Das tut man, wenn man verliebt ist. Sie hat sich wohl auch gefreut. Anfangs ganz bestimmt. Später? Ich weiß nicht. Jetzt sieht sie die Blumen nicht mehr, und ich bringe ihr doch welche. Vielleicht, weil ich mich dann an Herta erinnere, als sie jung und fröhlich war, und das tut mir auch ein bißchen gut.

O ja, Herta war fröhlich als junge Frau. So hast du sie nicht gekannt. Sie sang wohl auch, trällerte einen Schlager. Zum Beispiel... Ach, ich habe sie vergessen. Das ist lange her. Du magst es nicht besonders, wenn Menschen singen. Einmal waren Freunde hier, und wir haben gesungen. Erst hast du den Kopf schräg gehalten und mich sorgenvoll angeschaut. Dann hast du dich davon getrollt und versteckt. Ja, das weiß ich noch.
Eigentlich bevorzuge ich die Stille, das ist wahr. Wir lieben beide die Stille, du und ich. Nach Hertas Tod ist es ruhiger geworden, viel ruhiger. Wenn ich im Büro bin, hast du es hier ganz ruhig. Einmal in der Woche kommt Frau Wendland zum Putzen. Die kennst du und verziehst dich aus den Zimmern, die sie mit dem Staubsauger oder mit dem Schrubber bearbeitet. Das geht vorbei mit den Geräuschen, dem Summen und Klappern, mit der Feuchtigkeit und der Unordnung. Wenn ich dann heimkomme, gehen wir erst einmal rund um' s Viertel. Manchmal auch in den Park. Wie es uns paßt.
Ich komme jetzt immer pünktlich nach Hause. Das hängt mit meinem Job zusammen. Habe mich verändert im Betrieb, das sagt man so. Die Wahrheit ist, man hat mich abge­schoben. Der Posten verlangt Erfahrung, sagen sie. Er hat den Vorteil, daß man sich nicht immerzu auf Neues einstellen muß. Ich habe schon verstanden. Es tut ein bißchen weh, wenn man abgeschoben wird. Das Büro ist kleiner, liegt in einem kleinen, dunklen Flur. Aber lassen wir das! Ich kriege mein Geld, bin nicht mitten im Trubel, kann pünktlich nach Hause gehen. Und in zwei Jahren die Rente. Wir können zufrieden sein, wir beiden.
Du schweigst und siehst mich an. Mit deinen großen und schönen Augen. Ich kann in ihnen lesen. Und dann die senkrechte Falte auf der Stirn, nachdenklich, ein bißchen sor­genvoll. Machst du dir Sorgen? Sorgen um mich? Das mußt du nicht! Wir beide packen das. Komm her! Dein Fell ist seidig. Ich mag es gern streicheln. Wenn ich nun aufhöre, kommst du mit deiner Schnauze und stößt mich leise an. Weiterstreicheln! Ein bißchen noch, aber dann ist Schluß! Und laß deine kalte feuchte Nase beiseite! Die mag ich nun nicht, nimm mir das nicht übel!
Ich weiß, du liebst mich, suchst meine Wärme, meine Zärtlichkeit. Du verstehst mich, und ich nenne dich meinen Freund. Obwohl du nicht sprichst.
O, ich weiß, wann du spazieren gehen willst, wann du mit einem Ball spielen möchtest, wann du Hunger hast oder dein Geschäft verrichten mußt. Ich sehe an deinen Augen, wenn du dich freust; auch wenn es dir nicht gut geht, bemerke ich das sofort. Damals die Vergiftung! Weißt du noch? Wo hast du das schlimme Zeug nur aufgespürt und hinuntergeschlungen? Das war ein Kampf auf Leben und Tod! Der Tierarzt hat dich gerettet, aber wenn ich nicht so rasch gehandelt hätte...
Danach warst du noch anhänglicher als vorher. Auch aufmerksamer. Du spürst, was mit mir los ist. Wenn es mir gut geht, trägst du deinen Schwanz hoch. Bin ich trübsinnig hängt er herab. Mein Kummer teilt sich dir mit. Ich muß nicht darüber sprechen. Viel­leicht brauchen wir beiden überhaupt nicht die Sprache als Verständigungsmittel. Wir sind Freunde, da genügt ein Blick, ein Laut, eine Bewegung.
 
Es gab eine Zeit, da war Herta eifersüchtig auf dich. Als sich herausstellte, daß sie kei­ne Kinder bekommen konnte, habe ich gesagt, wir sollten uns einen Hund anschaffen. Sie hatte nichts dagegen. Was schleppst du denn heran? fragte sie, als ich mit dir auf
dem Arm ankam. Das ist ja ein Hundekind, ein Baby! Karls Hündin hatte vier Junge, die wollte er los werden. Vielleicht war es etwas zu früh. Die Mutter hat dir gefehlt. Vor allem in der Nacht hast du gefiept, wie kleine Kinder wimmern. Ich habe dir die Milch warm gemacht, hatte eine Flasche mit Nuckel besorgt. Wenn du satt warst, hattest du einen rosig-runden Bauch, eine richtige Plautze. Dann habe ich dich in dein Körbchen unter die alte braune Wolldecke gebettet, manchmal auch eine Wärmflasche daneben gelegt. Im Schlafzimmer wollte dich Herta nicht haben. Das muß man verstehen. Sie hatte es nicht gern, wenn ich dich knuddelte, an mich drückte und "Putzilein" oder "Pummelchen" zu dir sagte. "Schorsch" durfte ich dich nennen, und auf den Spazier­gängen rief ich dich "Schorschi", wenn sie nicht dabei war.
Frauen können komisch sein. Als wir wieder einmal um eine Nichtigkeit stritten, schrie sie mich an: Du liebst den Hund mehr als mich! Da wurde ich wütend, und schließlich habe ich gebrüllt: Der Hund behandelt mich besser als du! Das hätte ich nicht sagen sollen, aber sie hat mich gereizt. Du bekamst einen Fußtritt von ihr und hast minuten­lang geschrieen.
Ja, das war schlimm! Heute denke ich, das war der erste große Riß in der Beziehung zu Herta. Da hat es wohl angefangen. Jedenfalls hat sie sich kaum um dich gekümmert. Umso mehr bin ich mit dir spazieren gegangen. Das war so eine Art Flucht. Stunden­lang sind wir herumgestromert wir beiden, haben uns an der Bude ein Würstchen ge­gönnt oder eine Frikadelle. Ihre Quittung: Kein Abendessen!
Ich habe sie vernachlässigt, das gebe ich zu. Und sie hat sich gerächt.

Erinnerst du dich an Holger? Der das Zimmer bei Lewandowskis gemietet hatte, eine Etage unter uns? Ob der je regelmäßig gearbeitet hat? Er "jobbt", sagt man heute. Mal dies mal das, Taxifahren, Bücher sortieren, Zeitschriften austragen. Jedenfalls hat er Hertas Staubsauger repariert, hilfsbereit wie er war. Sagte sie! Ich fand ihn ganz sym­pathisch, du hattest auch nichts gegen ihn, wenn er anfangs mal zum Kartenspiel kam. Eine Flasche Bier hat man immer übrig.
Weißt du, wieso ich mißtrauisch geworden bin? Das hing mit dem Whisky zusammen. Herta verlangte danach, und er ging eilfertig in die Küche. Er wußte, wo der Whisky stand. Wie konnte er wissen, daß ich ihn unten im Küchenschrank aufbewahre?! Hätte ich mehr auf dich geachtet, dann hätte ich schon früher etwas gemerkt. Mit der Zeit wurdest du unfreundlich zu ihm, hast richtig geknurrt, legtest dich vor die Schlafzim­mertür und hast gegrollt, tief von innen heraus. Da hätte ich aufmerksam werden müs­sen!
Auf der Treppe habe ich mir den Holger gepackt. Was war das für ein Bürschchen, angstschlotternd und winselnd! Hau ab, habe ich gesagt, und das bald! Sonst... Und ich habe ihm mit der Faust gedroht. Er hat es kapiert. Ein paar Tage später war er weg, tauchte nie wieder auf.

Erst dachte ich: jetzt wird es besser mit Herta. Sie war irgendwie freundlicher, zog sich was Nettes an und änderte die Frisur. Manchmal war sie so richtig aufgekratzt, wenn ich heimkam. Dann fiel mir auf, daß sie langsamer sprach und nach Worten suchte. Es kam vor, daß sie sich komisch ausdrückte und darüber lachte. Sie ging geziert, gestelzt so­zusagen. Es dauerte einige Wochen, dann fand ich die leeren Flaschen, hinten im Klei­derschrank, sogar im Wäschekorb. Der Mann von der Bude wurde verlegen, als ich ihn fragte. Im Supermarkt habe ich mich dann gar nicht mehr erkundigt. Ich wußte Be­scheid.
Das ist eine Krankheit, sagt man heutzutage, wenn jemand säuft. Ich weiß nicht, aber krank wurde sie dann ja wirklich. Irgendwo am Körper ein Knoten. Vielleicht eine Fett­ablagerung, kann aber auch etwas Schlimmes sein. Plötzlich entdecken sie überall im Körper kleine Gewächse. Zellen, die bisher immer ruhig waren, fangen an, bösartig zu wachsen, wuchern, bilden Tumore und was weiß ich. Voller Metastasen, sagte der Chefarzt zu mir. Herta hat es nicht erfahren. Zum Schluß muß sie es aber gewußt ha­ben. Man spürt das, wenn es hoffnungslos ist. Sie hat mich manchmal durchdringend angesehen. Dann wieder war sie geistesabwesend und blickte ins Leere. Ich war täglich bei ihr, manchmal sehr lange. Du bist zu kurz gekommen. Hast die Zeit ertragen, ohne mich auch nur vorwurfsvoll anzusehen. Ein paar Streicheleinheiten genügten dir...

Dann ist sie gestorben. Nachts natürlich. Morgens in aller Frühe kam der Anruf aus dem Krankenhaus. Am Abend vorher war sie ziemlich ruhig. Ich habe ihre abgemagerte Hand genommen und lange gehalten. Ob sie das gemerkt hat? Als ich ging, lag sie ganz still da. Sie können nichts mehr tun, sagte die Nachtschwester. Nein, man kann nichts mehr tun. Ich bin quer durch den Park gewandert und fand den Ausgang nicht. Es war spät in der Nacht, als ich hier ankam. Du hattest lange gewartet, das sah ich dir an. Fres­sen und Trinken war die gar nicht so wichtig. Du hast dich vor mich hingesetzt und mich angeschaut mit deinen schönen, lieben Augen. So wie jetzt. Ich bin schließlich doch eingeschlafen. Das Telefon muß minutenlang geklingelt haben...
Dann die Todesnachricht! Man mußte damit rechnen. Aber es trifft einen doch wie ein Schlag. Ich war allein mit dir und habe geweint. Du wolltest mich trösten. Hast dich an mich gedrängt, meine Hand geleckt. Selbst dein altes Spielzeug hast du angeschleppt. Sie war nicht schlecht, die Herta. Zu dir war sie nicht gut, das stimmt. Aber schlecht war sie nicht. Sie kam nicht so ganz mit dem Leben zurecht, auch mit mir hat es nicht geklappt. Im Ganzen gesehen.. .
Nun sind wir beiden allein und werden es bleiben. Dich ärgert der Postbote und mich mein Chef. Den Hausmeister mögen wir beide nicht. Er ist freundlich, aber falsch.
Wir beiden werden zusammenhalten. Was, mein Lieber?! So, Schluß mit dem Lecken! Jetzt wird geschlafen! Gute Nacht, und paß schön auf!
Der Mann stand auf, reckte sich mit leisem Stöhnen und verließ die Küche. An der Schlafzimmertür drehte er sich noch einmal um: Schade, daß du nicht sprechen kannst! Manchmal wüßte ich doch gern, was du denkst oder fühlst...
 
Der Hund wedelte mit dem Schwanz. Als sich die Schlafzimmertür geschlossen hatte, ging er langsam auf seinen Korb zu und schnupperte an ihm.
Dann hob er noch einmal den Kopf, blickte zur Tür und sagte leise:
Gute Nacht, Bernhard!


© Joachim Klinger - Erstveröffentlichung 2008 in den Musenblättern