Fulminant

Evgeny Kissin mit „Lebenslinien“ in Wuppertal

von Johannes Vesper

Evgeny Kissin Wuppertal 27.6.2022 - © KFR Peter Wieler

„Lebenslinien“ beim Klavierfestival Ruhr:
 
Evgeny Kissin am 27.6.2022 in Wuppertal
 
Von Johannes Vesper
 
Evgeny Kissin spielt inzwischen zum 7. Mal beim Klavierfestival Ruhr. Seit seinem zwölften Lebensjahr fasziniert er die Musikwelt. Seinen internationalen Durchbruch erreichte er 1984 mit Chopins Klavierkonzerten, errang seitdem internationale Preise, war 2020 Preisträger des Klavierfestivals Ruhr. Nach großer jahrzehntelanger internationaler Karriere und mehr als 50 CD -Einspielungen muß er nicht weiter vorgestellt werden.
 
Im Rahmen der „Lebenslinien“ des Klavierfestivals Ruhr kam Evgeny Kissin am 27.6.2022 in die Historische Stadthalle auf dem Johannisberg, die mit ihrem Programm für NRW das zu werden scheint, was die Carnegie Hall für New York ist!
Toccata und Fuge in d-Moll von Johann Sebastian Bach (1685-1750) gehört zu den bekanntesten Orgelwerken, spiegelt Gefühle und Emotionen des ungestümen 19-jährigen Komponisten. Sie wurde ursprünglich für Klavier oder sogar Cembalo geschrieben. In Arnstadt stand damals jedenfalls nur eine kleine Orgel zur Verfügung. Musikwissenschaftler streiten im Übrigen auch immer wieder über Bachs Autorenschaft. Das Stück überlebte nur als Abschrift und die erste öffentliche Aufführung des Werks besorgte Mendelssohn am 6. August 1840 in Leipzig. Jetzt also in Wuppertal. Hier spielte Kissin die Bearbeitung von Carl Tausig (1841-1871), einem Lieblingsschüler von Franz Liszt, der ihm „Finger aus Stahl“ attestierte. Die waren heute hörbar. Nach Lisztscher Manier haute Kissin dieses Bravourstück ungeheuer schnell, kräftig, laut aus dem Flügel, wobei das orgelnde, pedalierte Klaviergepolter in den tiefen Lagen immerhin gut zu den Gewitterwolken des Tages paßte. Die Fuge geriet dank registerartiger Stufendynamik etwas durchsichtiger.
Nach kurzem, schon jetzt starkem Applaus folgte das Adagio in h-Moll KV540 von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) in für ihn ungewöhnlicher Tonart und ungewöhnlich elegischer Stimmung. Variationen des Themas in verschiedenen Tonlagen mit Übergreifen der Hände auch im Bass umspielt wechseln zwischen Dur und Moll und zurück. Ob es sich um eine Hommage an den kurz zuvor verstorbenen Vater handelt? Nach dessen Tod hatte er allerdings zuerst den unernsten „Musikalischen Spaß“ komponiert. Wie dem auch sei, pianistisch keine Herausforderung, riss uns die Interpretation nicht vom Hocker, bereitete aber doch auf den sich anschließenden ersten Höhepunkt des Konzertabends hin.
 
Die Sonate Nr. 31 in As-Dur op.110 von Ludwig van Beethoven, die mittlere seiner drei letzten Klaviersonaten, stammt aus einer Zeit (1821/22), in der er gesundheitlich angeschlagen und schon seit Jahren als Pianist selbst nicht mehr öffentlich aufgetreten war. Kurz zuvor hatte er eine Gelbsucht (Hepatitis A?) überstanden und sagte wegen seines reduzierten Allgemeinbefindens eine geplante Konzertreise nach London ab. Wegen der verheerenden Taubheit verständigte er sich mit seiner Umgebung vorwiegend schriftlich. Den Flügel konnte er trotz eines schallverstärkenden Apparates, unter dem er wie in einem Souffleurkasten saß (konstruiert von Klavierbauer Johann Andreas Streicher) nicht mehr hören. Eines solchen Apparates bedurfte es am heutigen Abend nicht. Cantabile und molto espressivo begann offen das taktfreie Adagio bis nach gebrochen Akkorden in freien 32steln das liedartige Thema sich über begleitenden Akkordrepetitionen erhob. Stimmungen und Atmosphäre breiteten sich frei aus. Das Allegro molto des 2. Satz dagegen ging vollgriffig akkordisch, virtuos und rhythmisch überraschend los, unterbrochen von ernstem Adagio-Intermezzo und freiem Rezitativ. Aus drängenden Tonrepetitionen entwickelt sich … nichts. Im letzten Satz dann, nicht zu schnell, wurde wiederum mit viel Kraft die Fuge objektiv ohne künstliche Subjektivismen vorgetragen, endete im ergreifenden pp-Intermezzo fast mit musikalischem Stillstand über repetitiver Begleitung, bevor in weiterer Durchführung eine Fuge über das das umgekehrte Thema zum Ende führte. Ist diese Sonate in ihrer Zerrissenheit und freien Form ein Psychogramm des alternden, kranken Beethoven? Jedenfalls handelt es sich um einen der ungewöhnlichsten Sonatensätze Beethovens. Die wunderbare Interpretation in natürlich makelloser Technik brachte großen Applaus.


Evgeny Kissin Wuppertal 27.6.2022 - © KFR Peter Wieler

Nach der Pause gab es sieben Mazurken von Frederic Chopin (1810-1849). Als kräftiger, sicherer, derber Walzer, unterbrochen durch geheimnisvolle lyrische Stimmungsbilder, leitete op. 7/1 den Reigen ein. Die folgenden Stücke zeigten die ganze Vielfalt Chopinscher Einfälle, erschienen tänzerisch, als Lieder ohne Worte oder als Charakterstück, lebten von subtiler Agogik, wobei beglückende Pianissimi fehlten. Als kleine Form, deren Poesie und Originalität Robert Schumann gelobt hatte, bezauberten diese Bravourstücke der Romantik. Ohne Pause leitete das schlichte Andante spianato (Spianato ital.: gleichmäßig, ausgewogen) über zur grandiosen Grande Polonaise Es-Dur op. 22. Welch mitreißender Kontrast. Ursprünglich für Klavier und Orchester geschrieben und zwar zur gleichen Zeit wie seine beiden Klavierkonzerte, ist die Fassung für Piano Solo ein gewaltiges Klavierwerk, welches den Orchesterpart quasi mit integriert. Voller Feuer, mit überschäumendem Temperament und atemberaubender Virtuosität brauste Evgeny Kissin spielfreudig hindurch, und das Publikum erlebte offenen Mundes auf der Stuhlkante eine Sternstunde der Klaviermusik in Wuppertal, sprang hingerissen nach dem fulminanten Schluß zu stehende Ovationen auf; Blumen mit Bravissimi und Pfiffen führten zu vier Zugaben bzw. zu einem Konzert nach dem Konzert mit dem objektiven, ernsten Choral: Nun komm der Heiden Heiland (Bach/Busoni) und mit Mozarts leichtem, eleganten Rondo D-dur KV 485. Nach Chopins Polonaise As-Dur op. 53 („Heroique) und seinen Walzer f-moll op. 70/2 verabschiedete sich Evgeny Kissin für dieses Mal.
 
Historische Stadthalle am Johannisberg:
Johann Sebastian Bach Toccata und Fuge in d-Moll.Wolfgang Amadeus Mozart Adagio in h-moll KV 540, Ludwig van Beethoven Nr. 31 As-Dur op.110,Frederic Chopin Mazurken (Auswahl), Andante spianato et Grande polonaise op 32. Evgeny Kissin