Im Paradies

von Detlef Färber

Detlef Färber - Foto © Silvio Kison
Im Paradies
 
Wieder so ein Moment, wo ich denke: „Mach bloß keinen Fehler! “ Dabei seh' ich schon, wie der Fehler dreckig grinsend auf mich zukommt. Und was mach ich? Ich mach ihn trotzdem! Und warum? Weil das wieder so ein Moment ist Wenn ich hier im Einkaufsparadies zum Beispiel am Obststand stehe: Das alte Seemannsleiden Skorbut lauert ja immer noch hinter jeder Ecke. Also müssen Vitamine her. Schon wegen der Standfestigkeit des Zahns im Kiefer. Übrigens auch wegen der Standfestigkeit im Ehestand. Oder außerhalb. Aber selbst bei der so nötigen Vitaminsuche liegen überall Fallstricke rum: Ein falscher Griff ins Regal, ein falsches Produkt im Korb und gleich ist die ganze Welt im Eimer. Das ist dann immer der Moment, wo ich denke: „Mach bloß keinen Fehler!“ Und wo ich mir vorkomme wie der erste Mensch.
       Aber dann passiert mir am Obststand was ganz Komisches. Erst denk´ ich, ich hab' was mit den Ohren und pule sie mir unauffällig aus. Nützt aber nichts, denn ich höre tatsächlich so ein feines Stimmchen - und zwar eins mit fremdländischem Akzent: „Nimm mich mit!“ Es ist nur so ein Wispern. Und das Wispern kommt eindeutig vom Apfel-Regal. Ich dreh' mich verstohlen nach links und nach rechts um - doch da ist keiner. Nirgends. Weit und breit niemand, der sonst gemeint sein könnte. Nur ich. Ausgerechnet mir muß das passieren! Aber weil es nun mal passiert und ich sicher gehen will, daß ich sie da oben noch alle hab', heb' ich kurz den Finger und frag' ganz leise in Richtung der Äpfel: „Ich?“ - „Wer denn sonst, ist ja weiter keiner da“, kommt es in ziemlich genervtem Ton vom Regal zurück. Und dann ist Funkstille. Und weil erst mal keiner von den Äpfeln mehr mit mir redet, guck' ich mir in Ruhe an, wer da von mir mitgenommen werden will.
       Doch das Ergebnis meiner Begutachtung ist alles andere als gut. Denn natürlich ist keiner von den Äpfeln, die da liegen, ein ökologisch-korrekter Apfel. Alle sehen sie aus wie geklont: Nicht die kleinste Druckstelle, kein Fleischzusatz durch eine leckere Bio-Wurm-Einlagerung, kein individueller Fäulnis-Fleck - nichts, gar nichts! Und natürlich muß damit auch der eine Apfel, der ausgerechnet mich gerufen hat, ein gespritzter Apfel sein. Und gespritzt sicher nicht mal mit Chemie aus dem hiesigen Chemie-Dreieck! Denn der Ärmste ist laut Pappen-Aufdruck ein echter Auslandsapfel. Weit gereist - mit Schiff, Flugzeug, transsibirischer Eisenbahn, Wüstenkarawane, Eisbrecher, Rakete, Eselskarren oder was weiß ich! Und umweltsündhaft mindestens einmal rund um die Welt gedüst. Darf ich so einen Apfel kaufen?
       Mein Gewissen braucht da keine Bedenkzeit: „Natürlich darf ich nicht!“ So, das wäre geklärt. Aber darf ich ihn links liegenlassen? Und womöglich noch mit überheblichem Gesichtsausdruck und einem intoleranten Spruch über des Apfels Herkunftsland? Auf diese Frage gibt es in meinem gegen jede Art von Vorurteilen eisern gewappneten Weltbild gleich gar keinen Wackler: „Einen Apfel diskriminieren, nur weil er Ausländer ist? Soweit kommt's noch!“ - „Aber wenn dieser Apfel doch ein Umweltschwein ist und eine meilenlange Ozonloch-Fahne hinter sich herzieht?“ Diese Frage, mit der ich mein Gewissen, so leid es mir tut, konfrontieren muß, wird von meiner höheren Instanz mit moralischem Rigorismus beantwortet: „Dann nimmst du ihn nicht: Soll er sich doch selber fressen! “
       Also, wie nun: Drei Fragen, zwei Antworten: nein, ja, nein - ein Entscheidungsdilemma. Doch da hör' ich schon wieder die Stimme wispern: „Er kauft mich, er kauft mich nicht, er kauft mich ...“ Und auf einmal packt mich die Wut: „Dich kauf' ich mir, Freundchen“, sag' ich, und tu's endlich: Ohne noch weiter zu zögern. Und ich pflücke mir von dem Regal den Apfel vorn links, samt seinen Kumpels in der Kunststoffverpackung: Obwohl jeder von ihnen ein Auslandsapfel ist - und jeder eine verbotene Frucht vom Baum der Correctness. Noch an der Kasse reiß” ich die Folie ab und beiß' hinein in den ersten Apfel. Und wie ein Blitz durchzuckt mich die Erkenntnis, daß gutes Obst auch nach bösen Umwegen gutes Obst bleibt. Und die Erkenntnis, daß ich endlich raus muß aus diesem Einkaufsparadies.
 

© Detlef Färber