Richard Wagner: Jenseits der Vernunft?

Karol Berger – „Jenseits der Vernunft. Form und Bedeutung in Wagners Musikdramen“

von Johannes Vesper

Richard Wagner: Jenseits der Vernunft?
 
Form und Bedeutung in Wagners Musikdramen
 
Von Johannes Vesper
 
Daß die menschliche Vernunft durch Fragen belästigt wird, die sie nicht beantworten kann, wußte schon Immanuel Kant. Und Karol Berger, mutig wie unerschrocken, schreibt tatsächlich ein Buch mit dem Titel „Jenseits der Vernunft“ über Richard Wagner (1913-1983). Dabei engt er das Thema aber schnell ein. Es geht ihm nur um die Musikdramen (Ring, Tristan und Isolde, Meistersinger und Parsifal), um deren Struktur und deren Verständnis, also nicht um die romantischen Opern des jungen Richard Wagner, nicht um „Der fliegende Holländer“, „Tannhäuser“, oder „Lohengrin“, erst recht nicht um „Rienzi“ oder das „Liebesverbot“. Nach den revolutionären Aktivitäten in Dresden 1849 mußte Richard Wagner ja ins Schweizer Exil fliehen, wo er fernab vom deutschen Opernbetrieb ausreichend Gelegenheit fand, über Oper, Drama und Musik nachzudenken. Mit den resultierenden Werken kommentierte und bestimmte er wirkmächtig das Gefühlsleben des 19. Jahrhundert wie neben ihm Karl Marx das politische Leben. Mit seinen Themen von Antisemitismus, Untergang, Liebe und Eros, Nationalismus bis hin zu Revolution und Erlösung hat Richard Wagner seine Zeit und die Welt nach ihm fasziniert und beeinflußt. Thomas Mann hielt ihn für das „großartig fragwürdigste, vieldeutigste und faszinierendste Phänomen der schöpferischen Welt“, welches nach Friedrich Nietzsche „die Modernität resümiert“ .
 
 Wer also Wagners Musikdramen mal „einfach“ kennenlernen will, nehme sich diese 532 Seiten einmal vor. Richtig „einfach“ wird die Lektüre aber nicht, empfiehlt doch der Autor das Lesen mit der Partitur in der Hand und CD-Einspielungen in der Stereoanlage. Um die Zuordnung des Textes zur Musik zu erleichtern, werden Akte und Taktnummern, bzw. CDs und Tracknummern angegeben. Eine andere Gruppe von Lesern interessiert sich vielleicht mehr für die philosophischen Aspekte dieser Riesenwerke. Beiden kann geholfen werden.
 
Zunächst wird jedenfalls die „geistige Landschaft“ vorgestellt, die Richard Wagner vorfand bzw. in der er lebte. In einer seitenlangen Randnotiz wird dazu nicht allein die Mechanik des Klaviers diskutiert, mit der in der Romantik die Seele sang, sondern vor allem auch die der Marionetten von Heinrich von Kleist, die trotz oder wegen ihrer Mechanik vollkommenste Anmut zeigten. Und Schubert habe sich bei der musikalisch „dunkelsten Vision seiner Zeit“ am Ende der „Winterreise“ der Mechanik einer Drehleier bedient. Ferner habe sich mit dem „organisierten und völligem Wahnsinn – dem Gespenst des Chaos“ bei den Koloraturen Rossinis der autonome vernunftbegabte Mensch von der Aufklärung und ihrer Vernunft verabschiedet. Ambitioniert und tiefgründig wird sodann behandelt, wie jenseits der Vernunft Karl Marx seine Begriffswelt (Materialismus, Entfremdung bei technologischem Fortschritt, Kommerzialisierung des gesamten Lebens, Anhäufung von Kapital, Versklavung des Proletariats u.a.m.) erfand, während Arthur Schopenhauer dagegen den „ultimativen Willen als Rivalen des autonomen Verstandes“ und die Welt als „Wille und Vorstellung“ sah. Von alledem war Wagner erheblich beeindruckt und beeinflußt, zusätzlich aber auch von Begrifflichkeiten wie „Nation“, „Nationalismus“, oder auch „wissenschaftlicher Rassismus“, den sein Freund Arthur de Gobineau, propagierte hatte und von Houston Stewart Chamberlain, dem Schwiegersohns Cosima Wagners, weiterverbreitet worden ist („Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“). Dazu gehört auch der Antisemitismus, den er in seiner Schrift „Über das Judentum in der Musik“ gefährlich wie absurd selbst geschrieben hat (Zwei Auflagen). Der Versuch Karol Bergers, die wichtigen Linien der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts auf ca. 60 Seiten zu bannen, bedeutete nicht nur für den Autor eine Herausforderung.
 
Bezüglich des formalen Geheimnisses der großen Musikdramen Richard Wagners rekonstruiert der Autor im Wesentlichen die Gedanken des Musikwissenschaftlers Carl Dahlhaus. Danach sind Dichtung und Musik im Musikdrama gleichwertig, während bei der Oper die Musik die Überhand hatte. Monologisierende Arien der Oper werden bei im Musikdrama zu musikalisch profilierten Dialogen, Rezitative zu musikalisch unterfütterten Erzählungen (kurzgefaßt).
 
Im Einzelnen liest man, wie im „Ring des Nibelungen“ die Geschichte der Göttergesellschaft erzählt, gezeigt und besungen wird und wohin eine Gesellschaft, die auf Gold, Macht, Betrug, Gewalt, Täuschung und Diebstahl beruht, am Ende kommt. Die Aktualität der Geschichte springt ins Auge. Verallgemeinernd wird der stets aktuelle gesellschaftliche. Der öffentliche Konflikt zwischen Gemeinwohl und privatem Egoismus, grandios in sechzehnstündigem Theater an vier großen Abenden musikalisch und szenisch höchst unterhaltsam ausgebreitet, wird im Buch auf ca. 130 Seiten erläutert. Interessanterweise wird Adornos Auffassung, daß der ganze „Ring eine Art gigantischen Nazikomplott und jüdische Verschwörung der Dunkelzwerge suggeriere“ kritisch kommentiert.
 
Die erotische Utopie von Tristan und Isolde analysiert der Autor unter lyrischen und erzählerischen Aspekten und diskutiert die Funktion des Orchesters, welches hier oft allein spielt und eigene Dramatik entwickelt. Manchen Zuhörern wird es zu weit gehen, daß grenzenloses Liebesglück im erlösenden Liebestod endet. Aber was macht den menschlichen Eros aus? Wie unterscheidet er sich von tierischer Sexualität? Vernunft und Autonomie spielen hier keine Rolle, dafür aber die Harmonik des berühmten Tristan-Akkords. Wie Textdichter und Komponist das Ganze musikalisch zu Ende bringen, wird aber nur bei einer Aufführung zu erleben sein. Es käme wohl darauf an, sich davon ergreifen zu lassen.
 
Das Thema der politischen Oper Richard Wagners, „der Meistersinger von Nürnberg“, besteht in der gesellschaftlichen Sozialisation des Individuums. Wie können private erotische Leidenschaften oder künstlerische, auf Selbstverwirklichung bedachte Entwicklungen mit gesellschaftlichen Vorschriften in Übereinstimmung gebracht werden? Freie Liebe wie im Tristan ist hier nicht mehr das Thema. Wenn die Erotik zur Ehe erstarrt und Kunst austrocknet in spröden Traditionen, blüht und gedeiht immerhin die Stadtgesellschaft Nürnbergs. Obwohl sich Bürger, Meister und Gesellen beim Bier nachts großartig prügeln, definiert Hans Sachs diese Gesellschaft über die nationale, „die heilige deutsche Kunst“. „Welscher Tand“ wird da nicht so geschätzt.
 
Fragen über Fragen die mit dem letzten Drama um Parsifal weiter zunehmen. Hier geht es um Heiligkeit, um Nächstenliebe,

Richard Wagner 12.2.1883 - Paul von Shukowsky pinx.
Zaubergarten, Abendmahl, um Langsamkeit. „Herrliche Momente aber schreckliche Viertelstunden“ meinte Rossini zum Ring, da kannte er Parsifal noch nicht. Und Theodor Billroth, der berühmte Chirurg und Musikschriftsteller, fragte 1882 brieflich bei Eduard Hanslick an, ob es „etwas Dümmeres, Widerlicheres“ gebe, als dieses Drama. In Vorbereitung des Parsifal hatte Richard Wagner über „Religion und Kunst“ geschrieben, sich Gedanken darüber gemacht, wie der Mensch – er selbst auch- im Gefolge des Darwinismus vom friedlichen Vegetarier zum gewalttätigen Fleischfresser wurde. Die Zusammenhänge zwischen Rassenmischung, Verderb des Blutes, Rassenverfall bleiben im Rahmen einer Rezension ungeklärt, werden im Buch aber umfassend behandelt. Sah Wagner den Vegetarismus als Symbol des Zölibats an? Glaubte er gar, durch Verzicht auf fleischliche Wünsche „erlöst“ werden zu können? Zur Uraufführung des „Parsifal“ 1882 pilgerten vegetarische Wagnerianer nach Bayreuth und huldigten fleischlos in der dortigen Gaststätte „Frohsinn“ nur dem Gemüse. Erstaunlich, daß trotz all dieses „ignoranten Unsinns“ Richard Wagner zu einer Schlüsselfigur der europäischen Kultur seiner Zeit wurde.
 
Auf 532 Stein konfrontiert Karol Berger, geb. 1947 in Polen, Emeritus des Departement of Music der Stanford Unversity hochgeehrt mit verschieden Wissenschaftspreisen und Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Richard Wagner und den Leser mit den wichtigen philosophischen Strömungen und mit abstrusen, gefährlichen Ideologien seiner Zeit. Sehr umfangreich und voll von Details erfordert die interessante Lektüre Konzentration und Zeit.
 
Karol Berger – „Jenseits der Vernunft. Form und Bedeutung in Wagners Musikdramen“
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Sven Hiemke.
© 2022 J.B. Metzler / Springer Verlag GmbH / Bärenreiter Verlag, 523 Seiten, gebunden, 46 s/w-Abbildungen, Siglen-Verzeichnis, zahlreiche Anmerkungen, Umfangreiches Verzeichnis der verwendeten Literatur - ISBN 978-3-476-05773-0
49,99 €
 
Weitere Informationen:  www.metzlerverlag.de