„Vom Tod umfangen“

Rückerts Parabel „Es ging ein Mann im Syrerland“ (1)

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Vom Tod umfangen“
 
Rückerts Parabel „Es ging ein Mann im Syrerland“ (1)
 
Von Heinz Rölleke
 
Friedrich Rückert, 1788 in demselben Jahr wie Joseph von Eichendorff geboren, gehörte zu den allseits bekannten und hoch geschätzten deutschen Lyrikern. Seine schier ungeheure Produktivität (er verfaßte 25.000 Gedichte!) trug ihm seit längerem das diskriminierende Etikett 'Vielschreiber' ein: Neuere Gedichtanthologien berücksichtigen ihn kaum, die Hochschulgermanistik kümmert sich nur noch am Rande mit seinen Dichtungen, und in der Folge ist er natürlich im Schulunterricht nicht mehr präsent. Es ist schade darum, denn nicht nur einige seiner Gedichte, sondern vor allem auch seine unglaublichen Leistungen als allseits anerkanntes Sprachgenie (er beherrschte nicht weniger als 44 Sprachen aus den indogermanischen, semitischen, turkischen und anderen Sprachkreisen) verdienen es, nicht in Vergessenheit zu geraten. Mit seinen Übersetzungen oder Nachdichtungen (alt)orientalischer Literatur etwa in seiner Sammlung „Oestliche Rosen“, „Die Weisheit des Brahmanen“ (6 Bände). „Firdosi's Königsbuch“ (3 Bände), aber auch mit seiner Übersetzung des „Koran“ schlug er die meisten und folgenreichsten Brücken in diesen reichen Kulturkreis.
 
Rückerts Lyrik erschließt dieser Gattung ganz neue Bereiche, indem er parallel mit dem von ihm geschätzten Graf von Platen Gedichtformen wie unter anderen das Ghasel meisterhaft in deutscher Sprache beherrschte. Goethe schätzte ihn, und kein Geringerer als Jacob Grimm wertete die makellose Metrik und die vollendete Reimtechnik seiner Gedichte als unüberbietbar. Eichendorff, der Rückert weniger schätzte, muß doch in seiner Literaturgeschichte neidlos anerkennen: „Bei Rückert erscheint das Schwierigste und Unerhörteste, weil es wirklich poetisch durchdrungen ist.“
 
Daß trotz der ungewohnten Kompliziertheit eines Teils seiner Lyrik ein sangbarer Ton gefunden wurde, beweist die hohe Zahl von Vertonungen unter anderen durch Brahms, Liszt, Schubert, Schumann, Hugo Wolf und Richard Strauss sowie besonders Gustav Mahler, der fünf von Rückerts „Kindertotenliedern“ und einem weiteren Rückert-Liederzyklus  zu anhaltendem Weltruhm verhalf. Schuberts Vertonungen von „Du bist die Ruh“ oder „Daß sie hier gewesen“ halten diese Texte in weiten Kreisen lebendig. Daß Rückert auch die einfache, volksliedhafte Sprache meisterhaft beherrschte, zeigt sich in seinem Lied „Aus der Jugendzeit“ (1818 gedichtet, über 60 Mal vertont), das - von Robert Radecke 1859 nach verkürztem und sentimentalisiertem Text komponiert - schon früh von den Archiven als „Volkslied“ registriert und in vielen Volksliedersammlungen abgedruckt wurde - bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ungeheuer populär war. Obwohl durch zahlreiche Toneinspielungen dokumentiert, erlebte das Lied nur noch einmal in Flüchtlingskreisen nach 1945 eine kurze Blütezeit, ehe es fast völlig in Vergessenheit geriet.
 
Hier soll nun eine Parabel des Dichters mit einer ähnlichen Rezeptionsgeschichte ins Gedächtnis gerufen oder neu vorgestellt

Friedrich Rückert
werden, die früher fast obligatorisch im Schulunterricht behandelt und dergestalt zu einem Stück der literarischen Allgemeinbildung wurde. Rückert veröffentlichte das Gedicht mit anderen unter dem Sammeltitel „Parabeln“, womit der Leser informiert war, was ihn erwartete. Die Parabel ist eine literarische Gattung, nach dem griechischen Wort  παραβολή (Parabolé) mit der Bedeutung Vergleichung, Gleichnis. Alles, was in der Parabel oder in einem Gleichnis berichtet wird, hat eine übertragene Bedeutung, die wie in der Allegorie - im Gegensatz zum Symbol - festgelegt ist. Die bekannten biblischen Gleichnisse gehen von einer alltäglichen Situation aus, die meist im Blick auf das Reich Gottes gedeutet wird. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf, dem der Hirt nachgeht, um es zu retten, meint Gottes Sorge um den Sünder, dessen Bekehrung höher bewertet wird als ein ununterbrochenes Leben nach dem Gesetz. Die Parabel erzählt eine erfundene Geschichte und ist auf bestimmte Vergleichspunkte konzentriert.
In der Parabel vom Verlorenen Sohn steht der Vater für Gott, sein erster Sohn für den selbstgerechten, der zweite für den sündhaften, zuletzt reuigen Menschen.
 
Parabeln hatten ihre Blütezeit im orientalischen Raum. So siedelt auch Lessing in seinem Schauspiel „Nathan der Weise“ die Ring-Parabel nicht zufällig in Jerusalem an. In seiner Quelle (Boccaccio) fehlt jegliche Lokalisierung.  Hier stehen die drei nachgemachten Ringe für die  monotheistischen Weltreligionen, der Vater für Gott, der alle Menschen gleichermaßen liebt.
 
                        Friedrich Rückert
                        Parabel
 
                        Es ging ein Mann im Syrerland,
                        Führt ein Kamel am Halfterband.
                        Das Tier mit grimmigen Gebärden
                        Urplötzlich anfing scheu zu werden
                        Und tat so ganz entsetzlich schnaufen.
                        Der Führer vor ihm mußt' entlaufen.
                        Er lief und einen Brunnen sah
                        Von ungefähr am Wege da.
                        Das Tier hört' er im Rücken schnauben,
                        Das mußt' ihm die Besinnung rauben.
                        Er in den Schacht des Brunnens kroch,
                        Er stürzte nicht, er schwebte noch.
                        Erwachsen war ein Brombeerstrauch
                        Aus des geborstnen Brunnens Bauch:
                        Daran der Mann sich fest tat klammern
                        Und seinen Zustand drauf bejammern.
                        Er blickte in die Höh' und sah
                        Dort das Kamelhaupt furchtbar nah',
                        Das ihn wollt' oben fassen wieder.
                        Dann blickt' er in den Brunnen nieder;
                        Da sah am Grund er einen Drachen
                        Aufgähnen mit entsperrtem Rachen,
                        Der drunten ihn verschlingen wollte,
                        Wenn er hinunter fallen sollte.
                        So schwebend in der beiden Mitte,
                        Da sah der Arme noch das Dritte.
                        Wo in die Mauerspalte ging
                        Des Sträuchleins Wurzel, dran er hing,
                        Da sah er still ein Mäusepaar,
                        Schwarz eine, weiß die andre war.
                        Er sah die schwarze mit der weißen
                        Abwechselnd an der Wurzel beißen.
                        Sie nagten, zausten, gruben, wühlten,
                        Die Erd' ab von der Wurzel spülten;
                        Und wie sie rieselnd niederrann,
                        Der Drach' im Grund aufblickte dann,
                        Zu sehn, wie bald mit seiner Bürde
                        Der Strauch entwurzelt fallen würde.
                        Der Mann in Angst und Furcht und Not,
                        Umstellt, umlagert und umdroht,
                        Im Stand des jammerhaften Schwebens,
                        Sah sich nach Rettung um vergebens.
                        Und da er also um sich blickte,
                        Sah er ein Zweiglein, welches nickte
                        Vom Brombeerstrauch mit reifen Beeren;
                        Da konnt' er doch der Lust nicht wehren.
                        Er sah nicht des Kameles Wut
                        Und nicht den Drachen in der Flut
                        Und nicht der Mäuse Tückespiel,
                        Als ihm die Beer' ins Auge fiel.
                        Er ließ das Tier von oben rauschen
                        Und unter sich den Drachen lauschen
                        Und neben sich die Mäuse nagen,
                        Griff nach den Beeren mit Behagen,
                        Sie deuchten ihm zu essen gut,
                        Aß Beer' auf Beerlein wohlgemut,
                        Und durch die Süßigkeit im Essen
                        War alle seine Furcht vergessen.
 
                            Du fragst: „Wer ist der töricht' Mann,
                        Der so die Furcht vergessen kann?“
                        So wiss', o Freund, der Mann bist du;
                        Vernimm die Deutung auch dazu.
                        Es ist der Drach' im Brunnengrund
                        Des Todes aufgesperrter Schlund;
                        Und das Kamel, das oben droht,
                        Es ist des Lebens Angst und Not.
                        Du bist's, der zwischen Tod und Leben
                        Am grünen Strauch der Welt muß schweben.
                        Die Mäuse heißen Tag und Nacht.
                        Es nagt die schwarze wohl verborgen
                        Vom Abend heimlich bis zum Morgen,
                        Es nagt vom Morgen bis zum Abend
                        Die weiße, wurzeluntergrabend.
                        Und zwischen diesem Graus und Wust
                        Lockt dich die Beere Sinnenlust,
                        Daß du Kamel, die Lebensnot,
                        Daß du im Grund den Drachen Tod,
                        Daß du die Mäuse Tag und Nacht
                        Vergissest und auf nichts hast acht,
                        Als daß du recht viel Beerlein haschest,
                        Aus Grabes Brunnenritzen naschest.
 
Es verdient Bewunderung, wie einer der größten Sprachmeister unter den Dichtern sich hier ganz auf seine intendierte Leserschaft einstellt. In der Ausdeutung am Ende wird deutlich auf anspruchslose Rezipienten angespielt, denen Punkt für Punkt die Bedeutung der Bildebene erklärt wird, und für die eine sehr einfache, zum Teil sogar kindliche Sprache ebenso angemessen erscheint wie die schlichte, volksliedhafte Metrik der Vierheber und die Paarreimform.

 Lesen Sie  morgen an dieser Stelle die Fortsetzung dieser literarischen Exkursion.

© 2022 Heinz Rölleke für die Musenblätter