Abgesang auf eine geliebte Schauspielkollegin

Ein Monolog

von Erwin Grosche

Foto © Linsensüppchen 54
Abgesang auf eine
geliebte Schauspielkollegin
(Ein Monolog)
 
(Jemand schminkt sich) Ich habe gehört, Kollegin van Boke spielt nicht mehr. Sie wäre der Entscheidung unseres Intendanten zuvorgekommen und habe ein Gastspiel angenommen in höheren Gefilden. Sie soll dort den Donner ersetzen. Kein Wunder bei ihrem Organ. Außerdem hat man mir zugetragen, daß sie ein schnelles Ende gefunden haben soll. Das glaube ich nicht. Auf der Bühne dehnte und zerrte sie alle Sätze, als hasse sie Poesie. Als säße Fellini im Zuschauerraum und wäre eigens gekommen, um sich ihre drei Sätzchen anzuhören. Man hat mir auch unter vier Augen anvertraut, daß sie sich die Möglichkeit eines letzten Zitates hat entgehen lassen. Das glaube ich nicht. Ich glaube eher, das war eines ihrer berühmten Löcher. Sie war ja ohne Souffleuse quasi aufgeschmissen. Sie vergaß ja alles, was wirklich wichtig war. Da fällt mir ein, Hella, du bekommst ja noch fünfzig Mark von mir.

       Schön. „Schön“ war ja eines ihrer Lieblingsworte gewesen. „Wenn du etwas schön machst, und ich mache es dann schön, dann wird es bestimmt ganz schön.“ Ich bitte Sie, gerade ein Wort wie „schön“ schreit doch mal nach einem Zusatz wie „wunder“, sie variierte es später durch den Begriff „super“, auch um ihre Verbundenheit mit der Jugend zu demonstrieren, obwohl die Jugendlichen, mit denen sie sich meistens umgab, schon alle über vierzig waren. Meine männlichen Kollegen haben sie ja alle sehr geschätzt. Verstehen Sie das nicht falsch. Man wurde sie ja nicht los, wie einen Schnupfen. Sie verstand es ja schon falsch, wenn man ihr in den Mantel half. Meine männlichen Kollegen verstanden dies immer als etwas „Karitatives“, wie eine Nachtwache im Krankenhaus. Aus ähnlichen Motiven erschienen wir auch alle immer geschlossen zu ihren literarischen Abenden, wo sie aus ihrem einzigen Gedichtband „Vertane Zeit“ vorlas. „Vertane Zeit“ handelte von ihren Debütantenjahren beim Landestheater Detmold. Ihr vierter Mann, ein Kleinverleger, brachte diesen Gedichtband als Hochzeitsgeschenk heraus und hat sich von dieser Zusammenarbeit nie wieder ganz erholen können. Ich sah kürzlich eine Inszenierung vom Landestheater Detmold, die konnten es auch nicht. Während wir noch beim Essen waren, las sie bereits vor: „Vertane Zeit, vertane Zeit, was bleibt, was bleibt, vertane Zeit.“ Wenn wir später in gemütlicher Runde beisammen saßen, um über ihr Werk herzuziehen, dann hörten wir, daß sie bereits wieder in der Küche Geschirr spülte.
       Sie kam immer später im Schlafanzug hinzu und sagte, daß sie aber jetzt ihren Schönheitsschlaf brauchen würde. Ich meine, dagegen war immer schlecht etwas zu sagen. Das einzige, was ich an ihr hoch schätzte, war ihr Alter. Ich hoffe, Hella, daß du im Himmel so erscheinen darfst, wie du auf Erden immer wirken wolltest, aber ich bitte dich, Hella, wir haben doch immer gewußt, welches Alter du gemeint hast. Wenn sie die Bühne betrat, dann seufzte man immer: „Aaaah“, so eine Ausstrahlung hatte sie. Wenn sie eine erotische Szene zu spielen hatte, dachte man immer, sie wollte die Wäsche wechseln. „Schrecken, Panik, Furcht“ bekam sie nur über die Rampe, wenn man ihr dabei auf die Füße trat. Sie lachte immer so, als käme sie gerade von einem Skiurlaub. Sie bewegte sich auch so, als wären Skier die Bretter, die für sie die Welt bedeuteten. Ein Wunder, daß sie sich nicht dabei einen Gips überzog, sie überzog ja immer alles. Am unerträglichsten war sie, wenn sie mit Kindern zusammen war, dann kroch sie immer auf allen vieren über den Boden und machte dazu öht öht öht öht. Das sollte ein Bus sein. Kennen sie einen Bus, der öht öht öht öht macht? Aber so war sie halt, die Hella van Boke.

       Sie hat es geschafft, daß wir uns alle für unseren Beruf geschämt haben. Sie war das Damokles-Schwert, das über uns hing. Wedekind hat recht. Die Lücke, die sie hinterläßt, repräsentiert sie am besten. Ich weiß es noch... Ich saß einmal mit Hella in unserer Lieblings-Weinstube. Wir waren die letzten Gäste. Wir hatten ein wenig was getrunken. Wissen Sie, wir Schauspieler müssen manchmal etwas trinken, damit wir die Welt vergessen, damit wir uns ganz auf unsere Kunst konzentrieren können... da sagte ich zu Hella: „Hella“ sagte ich zu Hella, „mir geht es heute nicht so besonders gut, hättest du nicht Lust, mit zu mir nach Hause zu kommen....“ wissen Sie, das war nicht böse gemeint, wir Schauspieler haben doch nur uns... und da weiß ich es noch wie heute, da schaute mich dann Hella an und sagte bloß „Nein“. Ich glaube wenigstens, daß sie „Nein“ gesagt hat, sie sprach ja immer ein wenig undeutlich, es kann auch sein, daß sie noch „Wein“ bestellen wollte, auf jeden Fall hielten wir uns dann einfach nur die Hände und sind dann auch so aufgewacht.

(Der Garderobenlautsprecher ruft zum Auftritt) Ja, ich höre Sie sehr gut. Ich bin auch schon soweit. Kann man mich in meinem Schmerz nicht mal allein lassen? Ich komme schon. Ich zittre schon, mein Herz gehört dem Publikum. „Freunde, der Boden ist arm, wir müssen reichlichen Samen ausstreun, daß uns doch nur mäßige Ernten gedeihn.“ So mach ích's. So mach ích's. Nicht schlecht.
 
© Erwin Grosche