Die Tour de France mal anders

Herman Seidl – „Warten auf Godeau“

von Frank Becker

Das Publikum im Fokus
 
Die Tour de France mal anders
 
Morgen beginnt, von Abermillionen Radsportfans in aller Welt herbeigefiebert, die Tour de France, das nach wie vor berühmteste und vielleicht anspruchsvollste Straßen-Radrennen seiner Art. Seit 1903 ausgetragen, ist es neben dem Giro d´Italia und der spanischen La Vuelta das Glanzlicht unter den Rennen, an dem Teams mit Spitzensportlern aus aller Welt teilnehmen. Im Fernsehen weltweit live übertragen hat es die Namen seiner Sieger zum Heldenstatus erhoben und andere von der Bildfläche gefegt, die des Betrugs oder Dopings überführt wurden. Filme über die Qualen dieser Tour durch die unterschiedlichsten Landschaften Frankreichs wurden gedreht - wobei Michael Pfleghars „Giro d'Italia – Die härteste Show der Welt“ (1975) unerreicht bleibt – und Bildbände gefüllt, in deren Mittelpunkt natürlich berühmte Sieger wie Jacques Anquetil. Eddy Merckx, Louison Bobet, Bernard Hinault oder Philippe Thys stehen.
Herman Seidl, der 30 Jahre lang das berühmte Rennen als Fotograf begleitet hat, entdeckte dabei einen Blickwinkel, der anderen in der Spannung entging: er fotografierte das Publikum, das in Erwartung von Ausreißern, Peloton und Nachzüglern mittlerweile in Dörfern und Städten, an Landstraßen und auf Paßhöhen bei Wind und Wetter zu Millionen die Streckenränder säumt, den Blick wartend auf das gerichtet, was da kommen wird. Unter dem pfiffigen Titel „Warten auf Godeau“ hat Seidl rechtzeitig zum Beginn des diesjährigen Rennens (das übrigens 2022 in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen vorbei am Tivoli, der Kleinen Meerjungfrau und Kongens Nytorv startet) einen Bildband vorgelegt, der sich eben nicht den Rennfahrern, sondern den Zuschauern am Straßenrand widmet. 73 ausgewählte Fotos zeigen die Faszination in den Gesichtern der Menschen, ihren Ideenreichtum, ihre Kostümierung – die einfach zur Tour gehört – und ihren Aufmarsch per Fahrrad oder Wohnmobil bis zu den entlegensten Plätzen und Gipfeln der Tour. À jour sind die Bilder nicht, wie man leicht erkennt, denn man sieht zwar überall hochgehaltene Kleinbild-Kameras, jedoch nirgends die heute allgegenwärtigen Smartphones mit der jeder versucht, eine Erinnerung an die Tour de France in Bild, Film und Ton festzuhalten.
 
Den Wert der Impressionen, die Herman Seidl ins Bild gebannt hat, schmälert das eher nicht. Mal ein etwas anderes Buch über die Tour de France – eher für Foto-Enthusiasten denn für Radsport-Begeisterte. Und der Titel? Lesen Sie, was  Verlag und Autor dazu schreiben:
»Warten auf Godeau« bezieht sich auf Samuel Becketts Freundschaft zu Roger Godeau, einem erfolgreichen französischen Radrennfahrer der 50er Jahre (der nie die Tour de France gefahren ist, Anm. d. Red.). Besondere Bekanntheit erlangte Roger Godeau als mutmaßliches Vorbild für den Titelhelden des Theaterstücks »Warten auf Godot« von Samuel Beckett, in dessen Werken das Fahrrad eine besondere Rolle spielt.
Es kursieren mehrere Versionen, wie es zu dieser literarischen Verewigung gekommen ist - von diesen ist allerdings keine verbürgt. In einer Variante soll Beckett bei einer Tour-de-France-Etappe am Straßenrand gestanden haben, und nachdem das Peloton vorbeigerauscht war, blieben die Zuschauer stehen. Auf die Frage Becketts, worauf sie warten würden, antworteten sie: »Auf Godeau.« (Vorwort)
 
Eine weitere Version besagt, daß Beckett, der selbst ein begeisterter Radrennfahrer und Besucher von Steherrennen war, mit einer Gruppe von Rennfahrern trainierte, zu der auch Godeau gehört haben soll, der allerdings häufig morgens zu spät kam. Man wartete also „auf Godeau“. (Wikipedia)
 
Herman Seidl – „Warten auf Godeau“
30 Jahre am Straßenrand der Tour de France
© 2022 DuMont Buchverlag GmbH, 160 Seiten, gebunden, 73 farbige Abbildungen - ISBN-13: 9783832169145
20,- €
 
Weitere Informationen: www.dumont-buchverlag.de