Alfred Brendel zu Goethe und Beethoven

am 17. Mai 2022 beim Klavierfestival Ruhr

von Johannes Vesper

Alfred Brendel - Foto © Johannes Vesper

Klavierfestival Ruhr, 17. Mai 2022
 
Alfred Brendel zu Goethe und Beethoven
 
Der gebeugte 91jährige wurde von Franz Xaver Ohnesorg zu seinem Tisch auf der Bühne geleitet. Unter dem Stichwort „Lebenslinien“ soll mit solchen Veranstaltungen ein Schlaglicht auf die Menschen geworfen werden, die als Pianisten seit Jahren zum Klavierfestival kommen, um zu musizieren. Alfred Brendel kam erstmalig schon 1996 gleich zu Beginn der Intendanz Ohnesorgs nach Mühlheim mit den letzten drei Sonaten Beethovens. Seit Jahrzehnten hatte er da schon in allen großen Konzertsälen mit den führenden Orchestern der Welt gespielt. Am 18.12.2008 trat er mit den Wiener Philharmonikern zum letzten Mal als Pianist auf. Seitdem denkt, spricht und schreibt er über „Schattenseiten der Interpretation“, über „Mein musikalisches Leben“, publizierte seine gesammelten Gedichte („Spiegelbild und Schwarzer Spuk“ bei Hanser) und seine gesammelten Essays („Über Musik“ bei Piper). Unvergesslich blieb, wie er Ohnesorg 2018 in Wuppertal zum runden Geburtstag mit einem Gedicht gratuliert hat und mit seinem Fernrohr das Klavierfestival aus Distanz beäugte. Sein letztes Buch über Sinn und Unsinn der Musik erschien ebenfalls 2018 bei Hanser. Heute Abend ging es nicht darum sondern um ernste Fragen: Goethe und Beethoven lautete das Thema. Eigentlich sollte Fabian Müller zum Vortrag spielen. Der lag aber zu Hause mit hohem Fieber zu Bett. Alfred Brendel begann also solistisch und sprach davon, daß er Goethe und Beethoven in der Ferne (diesmal ohne Fernrohr!) wahrgenommen habe als unbegreiflich hohe Türme, deren obere Etagen in den Wolken verschwinden. Nähere er sich diesen Türmen, nehme er die ungeheure, unbegreifliche und grenzenlose Vielfalt der beiden war. Daß Goethe als Halbwüchsiger Gedichte auf Englisch und Französisch verfaßt, er vor allem die komische Oper geliebt und als Theaterleiter in Weimar auch inszeniert hat, zeigt sein umfassendes und brennendes Interesse für alles Geistige in seiner Umgebung. Denn studiert hatte er ja Jura, trat dann aber mit 35 Jahren in den Staatsdienst ein, wurde Minister für Bergbau, schrieb den „Werther“, der ihn als Schriftsteller bald weltberühmt machte, wirkte als Theaterintendant in Weimar und lebte jedenfalls nie von seinen Schriftstellerhonoraren. Für die Natur interessierte er sich wissenschaftlich, mochte aber überhaupt nicht die Mathematik. Bezüglich Beethoven sprach Brendel natürlich sogleich von dessen unvergleichlichen, herrlichen, langsamen Sätzen und über dessen musikalische Vielfalt. Bei den 32 Klaviersonaten Beethovens gibt es keinerlei Wiederholung oder Zitate. Beide „Leuchttürme der Kultur“ waren von Napoleon beeindruckt, wobei Beethoven seine Widmung zur Eroica zerriß, während Goethe 50 Medaillen Napoleons in seiner Sammlung gehabt haben soll. Beide wirkten an der Grenze zwischen Klassik und Romantik. Brendel berichtet genüsslich über das Erscheinungsbild beider: Während sich der pockengesichtige Beethoven, nachlässig in Kleidung und besonders schlampig mit seiner Handschrift, sich grantig gegen fast alle seine Mäzene zeigte, die deswegen aber nicht beleidigt waren, sich mit sonorem Bass und zunehmend schwerhörig gesellschaftlich schwer tat, galt Goethe mit 172 cm Größe, leichtem Übergewicht, großer Nase und gepflegten Zähnen als schöner Mann und attraktiver Gesprächspartner. Er schrieb zusätzlich zu seinem literarischen Werk mehr als 20.000 Briefe und schätzte seine Kollegen bis über den Tod hinaus. Schließlich bekam er 1826 Schillers Schädel zur Aufbewahrung, bei dessen Anblick er dichtet, wie „im ernsten Beinhaus Schädel und Knochen kreuzweis liegen“ und sich fragt, „was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, als daß sich Gott-Natur ihm offenbart“. Bei Beethoven hat die Musik dämonische Dimensionen. Erstaunlich, daß der Rhythmus seines berühmten Eingangsthemas aus der 5. Sinfonie ta-ta-ta-taaa im 2. Weltkrieg weltberühmt wurde, weil die Soldaten der Alliierten schnell bemerkt hatten, daß im Morsealphabet mit diesen Schlagfolge das Siegeszeichen, das V, gekennzeichnet ist. Natürlich spricht Brendel über den Humor beider. Während Goethe den guten Humor geliebt habe, mochte Beethoven eher den schwarzen und bösen Humor. Die großen Diabelli-Variationen bezeichnete Brendel als ein Kompendium des musikalischen Humors. Man müsste sie noch einmal hören. Leider konnte Fabian Müller Beethovens Sonate op. 54 nicht spielen. Schade. Brendel hat sich dieser Sonate interpretatorisch nämlich ausgiebig gewidmet. Immerhin hatte man eine gute Aufnahme des trefflichen Wilhelm Kempff aus den 40er Jahren des 20. Jahrhundert über Lautsprecher präsentieren können. Wie endet so ein Vortrag über ein nach mehr als 200 Jahren noch faszinierendes Thema? In dem man auf die hohen Türme des Anfangs zurückkommt und in Erinnerung ruft, daß die oberen, in Wolken verhüllten Stockwerke beim nächsten Mal besprochen werden müssen. Das gefesselte Publikum spendete großen Applaus, der Vortragende erhielt Blumen und kehrte mehrfach auf die Bühne zurück. Ein wahrlich denkwürdiger Abend.
 
Johannes Vesper