Alles der Reihe nach

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Alles der Reihe nach
 
In Paderborn geht es der Reihe nach. Wenn irgendwer versucht sich vorzudrängeln, verteufelt gleich ein Shitstorm den Vorprescher, sodaß ein Lamento wie: „Geht es hier nach Schönheit?“, noch zu den gesitteten Vorwürfen gehört. Ist es denn richtig, wenn die Schüler vom Theodorianum eher ihr Eis kriegen als die Schüler vom Reismann-Gymnasium, nur weil sie besser Latein können? Okay, der Zugang zu den Köstlichkeiten des Lebens muß geregelt werden. Wenn alle gleichzeitig die Einsamkeit erleben wollen, kommt sie nicht mehr optimal zum Zuge. Nur wenn es darum geht, den Haxtergrund vom Müll zu befreien, hält sich das Gedrängel in Grenzen. Kann man das Recht auf eine gerechte Behandlung anders einfordern als durch ein frühzeitiges Erscheinen? Da hat man als Priester eine ganze Nacht einen Sterbenden bei den letzten Atemzügen begleitet, und steht am nächsten Tag trotzdem bei Bäcker Hermisch in der Schlange, wenn man einen Streuselkuchen kaufen will. Ich sah mal unseren Erzbischof, wie er sich bei einem Buffet anstellen mußte. Er mußte sogar länger in der Reihe stehen als andere, da der Senf, den er auf seine Frikadelle drücken wollte, erst am Schluß des Buffettisches aufgebaut war. Haben wir noch alle Tassen im Schrank? Sollten wir Paderborner nicht unserem Erzbischof und anderen Würdenträgern den Rücken frei halten, damit sie sich für große Aufgaben stärken können? Man könnte doch zuerst das Buffet eine halbe Stunde für den Erzbischof, unseren Bürgermeister und sagen wir mal unseren Extremschwimmer André Wiersig öffnen, damit die Leute, die sich für etwas einsetzen, in Ruhe essen können. (Ich bin mir auch sicher, daß André Wiersig die Fischbrötchen über lassen wird.) Und dann erst wird das Buffet für uns Normalsterbliche frei gegeben.
     Ich habe immer gesagt, beim Bäcker wird der zuerst bedient, der den größten Hunger hat. Manchmal muß man Gnade vor Recht ergehen lassen. Auch der Montag wäre leichter zu ertragen, wenn er am Ende der Woche läge. Es gab mal einen Friseur am Marktkauf, der die Haare aller Hippies und Struwwellieses nach der Reihenfolge ihres Erscheinens schnitt. Ich kam an dem Tag spät und sah drei Frauen, die noch vor mir waren. Da verzichtete die Frau, die nun dran gekommen wäre, auf ihre Haarschneidesession und überließ mir ihren Platz. „Sie haben es nötiger als ich“, sagte sie. Es ist rührend, wenn ein Mensch den Gesetzen der Reihenfolge seine eigenen Überzeugungen entgegenstellt. Nur so kommt Gefühl und Abwechslung in die Welt. Natürlich habe ich ihr später einen Strauß Rosen in den Salon gebracht. Auch das Vokalensemble Anis oder Mandel lief auf, um der großmütigen Frau während ihres Haarschnittes ein Potpourri mit Liedern aus dem Musical „Hair“ vorzusingen. Am Tag darauf rief sie sogar der Bürgermeister an, damit sie sich in das goldene Buch der Stadt Paderborn einträgt.
     So zieht Glück immer Glück nach sich und man ist weit gekommen, wenn man dem hinter einem Stehenden zurufen kann „Nach ihnen“ um sich dann in seinem Schatten zu sonnen. 

© 2022 Erwin Grosche
 
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