Erinnerung an Heinrich Hahne

Der Pädagoge und Publizist wäre heute 111 Jahre alt geworden.

von Frank Becker

Heinrich Hahne - Walter Wohlfeld pinx.
Erinnerung an Heinrich Hahne
(1911-1996)

Der Pädagoge und Publizist
wäre heute 111 Jahre alt geworden.
 
1911 in Gelsenkirchen geboren und über die Lebensstationen Warstein (Jugend), Emmerich (Abitur am humanistischen Gymnasium), Köln, München und Kiel kam Heinrich Hahne schließlich nach Berlin. Dort studierte er Philologie, Philosophie, Kunst- und Musikwissenschaft und promovierte 1936 bei Nicolai Hartmann, Eduard Sprenger und Arnold Schering. Als Mitarbeiter beim „Berliner Tagblatt“ und der „Frankfurter Zeitung“ wurde er 1939 eingezogen. Der 2. Weltkrieg raubte ihm Jahre des Lebens und Schaffens und trug ihm stattdessen wiederholt Verwundungen ein. Schließlich wurde er aus dem Militärdienst entlassen und legte 1943 in Prag sein philologisches Staatsexamen ab.
Mit seiner Frau Susanne, die er in Prag am philosophischen Seminar getroffen und umgehend geheiratet hatte - sie erinnerte sich noch an den Antrag: „Wollen wir ein Compagniegeschäft eröffnen?“ - kam Hahne 1953 über diverse Stationen nach Wuppertal, wo er bis zu seinem Ende als Pädagoge, freier Publizist und Hochschuldozent wirkte.
Wer zu Hahnes Schaffenszeit Abonnent der FAZ, NBZ oder der „Zeit“, der Süddeutschen Zeitung oder des „Tagesspiegel“ (Berlin) war, die „Neuen Deutschen Hefte“, die „Frankfurter Hefte“ oder das „Orchester“ las, wird seinen Namen kennen. Diese und viele andere Blätter bemühten sich neben Rundfunksendern wie dem WDR um seine sachkundige Mitarbeit auf den Gebieten Musik, Theater, Literatur und Sprache und nutzten seine philosophisch-philologische Universalbildung.
Acht Bücher Hahnes erschienen zu Lebzeiten, die posthum aufgelegten Bände „Nachhall“ und „Einsichten“, erschlossen durch systematische Inhaltsverzeichnisse, komplettierten 1999 das umfangreiche Œuvre des Kritikers, Feuilletonisten und Essayisten.
Die Musenblätter können heute, zu seinem 111. Geburtstag, exklusiv einen bisher nicht publizierten Text Heinrich Hahnes aus seinem Nachlaß veröffentlichen.
 
Frank Becker
 
Unzeitgemäßer Versuch
 
Ein baumlanger Obersekundaner, (ein Neuntkläßler also), schlendert lässig über den Schulhof; er pellt mit den Fingern seine Apfelsine ab, wirft die Reste auf die Erde und schubst sie (vielleicht noch unter den Nachwirkungen einen bürgerlichen Ordnungssinns) mit dem Fuß aus dem Wege. Ein Lehrer beobachtet den Vorgang, greift zur Krawatte, holt tief Luft und brüllt den Schüler an, daß das Echo von der Mauer widerhallt: Wer ihm wohl seine Hinterlassenschaften nachtragen solle? Etwa der Hausmeister, die Mitschüler oder gar er selbst, er, der Lehrer? Die Umwelt erstarrt, nicht eigentlich wegen dieser Belehrung, sondern wegen das repressiven Tons (sozusagen), der hier im Zeitalter der Schüleremanzipation angeschlagen wird. 19. Jahrhundert. Natürlich. Höchstens.
Doch siehe an: Der Neuntkläßler (sozusagen) bückt sich, sammelt, gewiß etwas zögernd, aber immerhin sammelt er die Reste seiner Atzung ein und trägt sie in Richtung das augestreckten Lehrerfingers zum Abfalleimer. Und der Lehrer? Er atmet auf, weniger wegen der Anstrengung, noch weniger wegen der wiederhergestellten Ordnung Aber was wäre geschehen, wenn der Schüler nicht reagiert, wenn er stattdessen still vor sich hingelächelt hätte? Der Lehrer wäre untendurch gewesen, ein für allemal. Er atmet auf, geht davon und lächelt still vor sich hin.
 
Heinrich Hahne