Brunetti ekelt sich

Donna Leon - "Lasset die Kinder zu mir kommen" (Commissario Brunettis sechzehnter Fall)

von Frank Becker
Weltverdrossen

Wer die Kriminal-Romane Donna Leons seit dem ersten Fall des venezianischen Commissario Brunetti verfolgt und die Entwicklung der Dramatis personae beobachtet hat, kann feststellen, daß ihre Schöpferin sie immer ein wenig tiefer ins Grau von
Korruption, Abhängigkeiten, Behördenwillkür, Bestechlichkeit und staatlich gedeckter Ungesetzlichkeit eintaucht. Ihr neuer Roman, dem ich analog zur Einordnung des Verlages nicht das Attribut "Kriminalroman" zubilligen möchte, ist eine deprimierende, beinahe hilflose Anklage gegen die politischen und administrativen italienischen Verhältnisse. Kaum, daß noch irgend etwas Positives den Commissario streift, sehen wir einmal von seiner engsten Familie und einigen wenigen Kollegen wie den gutwilligen Pucetti und Ispettore Vianello ab. Dann aber gerät die damit verbundene Schwarz-Weiß-Malerei mitunter gar zu süßlich. Sogar die graue Eminenz von Brunettis Schwiegervater Conte Falier zeichnet Donna Leon mit immer schärferen schwarzen Strichen.

"Lasset die Kinder zu mir kommen" ist eine Geschichte, die sich mit dem Mißbrauch vertraulicher medizinischer Daten, illegalen Adoptionen, besser: Kinderkäufen und erneut mit dem Gefälle von Macht und Ohnmacht beschäftigt. Brunetti muß, nein will einen mysteriösen Fall klären, bei dem die Sachlage von einem unangemessen harten Einsatz der Carabinieri auf venezianischem Boden ausgeht, bei dem einem "Elternpaar" ein illegal erworbenes Adoptivkind weggenommen und der "Vater", ein junger Arzt, brutal zusammengeschlagen wird. Brunetti deckt im Verlauf seiner Untersuchungen Datenmißbrauch und Indiskretionen im medizinisch-pharmazeutischen Gewerbe, Selbstsucht und Bigotterie auf, die seinem ohnehin beschädigten Verhältnis zur Gesellschaft nicht eben förderlich sind.

Donna Leon hat in diesem neuen Buch bei ihrem Personal eine veränderte Gewichtsverteilung vorgenommen. Vice-Questore Patta, eine wunderbare Figur, die übrigens bei den Verfilmungen mit Michael Degen genial besetzt ist, kommt kaum zum Zug, Signorina Elettra wird wieder einmal als verdeckte Ermittlerin aktiv und von den Kindern Brunettis hört man nichts. Dafür wird Vianello kräftiger gezeichnet, seit Brunetti ihm das Du angeboten hat. Daß die Carabinieri fast durchweg als Dummbeutel dargestellt werden, wird persönlich begründet sein. Die Rivalität zwischen den Polizeieinheiten sorgt zwar für Spannungsmomente, ist aber zu flach ausgerollt. Trotz vieler Flaschen Wein und diverser köstlicher Essen zu Hause wirkt der kulinarische Anteil diesmal irgendwie aufgesetzt, als fühle sich Donna Leon verpflichtet, hier Kenntnis zu beweisen. 

Wie alle Brunetti-Romane liest sich "Lasset die Kinder zu mir kommen" flüssig, doch diesmal weit umständlicher in Konstruktion  und Reflexion. Das Buch wirkt langatmig, zu bemüht um einen kritischen Plot, und es läßt einige Handlungsstränge versanden. Dafür erfahren wir zu unserem größten Erstaunen erstmals (nur andeutungsweise, natürlich) etwas über die Erotik in Brunettis Ehe. Ansonsten bleibt er der weltverdrossene Saubermann mit höherer Bildung, der eigentlich viel zu brillant für seinen Job ist. Donna Leon muß aufpassen, daß sie ihren Protagonisten nicht zu sehr glorifiziert und nicht die Leser verprellt, die solide, spannende Krimi-Kost wünschen, wie sie es von ihr gewöhnt sind.

Beispielbild

Donna Leon
Lasset die Kinder zu mir kommen

Roman

© 2008 Diogenes Verlag

355 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag
21,90 €

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