„Davon glaube ich kein Wort!“

Johannes Kepler in der Anekdote

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer

„Davon glaube ich kein Wort!“

Johannes Kepler in der Anekdote

Von Ernst Peter Fischer
 
„Mord im Namen der Wissenschaft?“
 
Newton hatte damit Johannes Keplers Problem einer immanenten oder irdischen Erklärung der himmlischen Bewegungen gelöst, wobei dem deutschen Astronomen die entscheidende Wende im abendländischen Denken – also die Zurückweisung einer göttlichen Wirkkraft für die planetaren Bewegungen – durch eine Berechnung der Marsbahn möglich geworden ist, die er als Ellipse identifizieren konnte. Wer nun die scheinbar harmlose Frage stellt, woher Kepler die Daten hatte, die ihm diese alles entscheidende Korrektur weg von gottgegebenen Kreisbahnen erlaubte, kommt schnell in Teufels Küche. So behaupten es jedenfalls die beiden amerikanischen Autoren Joshua und Anne-Lee Gilder, die ein Buch mit dem Titel „Der Fall Kepler“ geschrieben haben, das die potentiellen Leser mit dem Untertitel lockt, der von einem „Mord im Namen der Wissenschaft“ spricht. Gemeint sind Ereignisse um das Jahr 1600 herum, und neben Kepler steht der dänische Astronom Tycho Brahe im Mittelpunkt des Geschehens, der die genauesten Daten zur Marsbahn gesammelt hatte und in Prag lebte und wirkte, als er plötzlich starb, kurz nachdem Kepler zu ihm gestoßen war. Und während „die Mitglieder von Brahes Haushalt vor Trauer wie gelähmt waren und seine nächsten Angehörigen sich vor Gram verzehrten“, so berichtet es das Ehepaar Gilder, „entwendete Kepler kurzerhand den Schatz, auf den er es seit seiner Ankunft in Prag abgesehen hatte.“
       Kepler hat 1605 in einem Brief an den englischen Astronomen Christoph Heydon zugegeben, „Ich leugne nicht, daß ich nach Tychos Tod infolge der Abwesenheit oder mangelnden Kenntnis der Erben mit die Sorge für die hinterlassenen Beobachtungen dreist sicherte und vielleicht anmaßend in Besitz nahm, entgegen dem Willen der Erben, jedoch auf das nicht missverständliche Geheiß des Kaisers“, der verständlicherweise keine Lust zeigte, Brahe für seine Arbeit zweimal zu bezahlen – einmal zu seinen Lebzeiten durch sein Gehalt als Hofastronom, und dann nach seinem Tod auch noch für die Daten, die er in seinen Diensten gesammelt hat. Zwar gab sich Kepler ohne Schau als einen Menschen zu erkennen, der von einer „unglaublichen Liebe zu Ruhm, zu Anerkennung, Beliebtheit, Beifall der Menschen“ erfüllt ist, während er zugleich die ganze Zeit befürchtet, „er könne mit Recht Anstoß erregen oder von einem anderen verachtet werden“, wie er einmal in einer „Selbstcharakteristik“ geschrieben hat. Aber ihm deshalb vorzuwerfen, er habe seinen dänischen Kollegen Brahe ermordet, schießt ziemlich weit über das Ziel hinaus.
       Was die Ursache des tatsächlich unerwarteten Todes von Tycho Brahe angeht, so waren Historiker lange Zeit davon ausgegangen, daß – wie es in zeitgenössischen Quellen heißt – der Astronom an einem Blasenriß gestorben ist, weil er es trotz heftigen Harndrangs nicht gewagt habe, ein Bankett des Kaisers Rudolf zu verlassen und auszutreten. In den 1990er Jahren konnte man dann bei der Öffnung des Brahe Grabes in der Teynkirche in der Prager Altstadt ein Haar sicherstellen, das dem Astronomen gehört haben muß. In ihm konnten mit modernen Methoden neben Blei und Antimon auch Spuren von Quecksilber nachgewiesen werden, was ein Element ist, das er kaum als Medikament eingenommen hat. Wahrscheinlich hat Brahe entweder alchemistische Experimente mit Quecksilber unternommen – wie sie später auch der große Newton noch durchgeführt hat –, oder er hat eine quecksilberhaltige Salbe gegen die Syphilis auf seine Haut aufgetragen, wie es damals üblicherweise gehandhabt wurde. Aber es klingt extrem weit hergeholt, aus dem Vorhandensein des giftigen Schwermetalls in Brahes Haar auf Mordabsichten Keplers zu schließen, der es im übrigen schwer genug hatte im Leben. Seine erste Ehe mit einer Barbara verlief unglücklich, da sich die Mutter seiner fünf Kinder, von denen nur zwei am Leben blieben, mehr um ihre Gebetsbücher kümmerte und ihrem Gatten auch kaum an dem Vermögen teilhaben ließ, das sie als gut betuchte Frau mit in die Ehe gebracht hatte. Als Barbara 1612 gestorben war, heiratete er die 24jährige Susanne, die ihm sieben Kinder schenkte, von denen drei das Kindesalter nicht überlebten.
       1615 wurde es ganz düster für Kepler, als seine Mutter wegen Hexerei angeklagt wurde, da sie Heiltränke anbot und Kräuterheilmittel bereitete, mit denen sie – Zauberformeln murmelnd – in ihrem Heimatdorf umherirrte. Nur dank des Einflusses ihres angesehenen Sohnes, der sich damals immerhin Kaiserlicher Mathematicus nennen durfte, wurde ihr nach einem jahrelangen Prozeß der Gang auf den Scheiterhaufen erspart, auf dem allein in Keplers Geburtsort Weil der Stadt 38 Frauen ihr Leben lassen mußten.
       Gegen Ende seines Lebens verfaßte Kepler noch einen „Mondtraum“, in dem eine imaginäre Reise zu dem Erdtrabanten geschildert wird und in dem auch eine geschwätzige Vettel auftritt, die mit geheimen Ritualen Geister beschwört, um Dämonen dazu zu bewegen, die Reisenden auf den Mond zu bringen. Er muß sich gegen den Vorwurf verteidigen, mit der Hexe im Märchen seine Mutter gemeint und etwas von ihr preisgegeben zu haben, was hier nur im Vorübergehen erwähnt wird, da etwas anderes wichtiger ist. Kepler bricht nämlich kurz vor dem Erscheinen der lateinisch „Somnium“ betitelten Mondfahrtbeschreibung im Herbst 1630 plötzlich von zu Hause auf und läßt seine Familie mittellos zurück, ohne daß ein expliziter Grund überliefert ist. Das heißt, viele Mittel gab es da gar nicht, da Kepler von seinem Dienstherrn, den Kaiser, kaum bezahlt worden war (und ihm auch der berühmte Herzog von Friedland und Sagan, ein Mann namens Albrecht von Wallenstein, noch die Honorare für eigens ausgearbeitete Horoskope schuldete). Der Astronom kämpft sich bis Regensburg durch, wo er beim dort abgehaltenen Reichstag von dem damals amtierenden Kaiser Ferdinand II. die rückständigen Beträge einfordern will, doch er ist zu geschwächt, um sich Gehör zu verschaffen. Kepler bekommt Fieber, fällt ins Delirium und stirbt. Auf dem Grabstein soll der Spruch graviert werden, den er selbst auf Lateinisch verfaßt hat und der auf Deutsch so lautet:
       „Himmel hab ich vermessen, jetzt meß´ ich die Schatten der Erde./
       War himmlisch erhoben der Geist, sinkt nieder des Körpers Schatten.“
 
       Ob Keplers Wunsch erfüllt worden ist, läßt sich nicht sagen, denn im 30jährigen Krieg haben schwedische Truppen den Friedhof umgegraben, um eine Verteidigungsanlage an seine Stelle zu setzen. Keplers Grab und Gebeine sind dabei verschwunden und bis heute nicht wieder aufgetaucht. Was bleibt, sind seine Werke und seine Einsichten in die Harmonie der Welt.
 

© Ernst Peter Fischer