Klabund: Deutsches Volkslied

Die Quellen für ein Pasticcio

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Klabund: Deutsches Volkslied
 
Die Quellen für ein Pasticcio
 
Von Heinz Rölleke
 
Der unter seinem Künstlernamen „Klabund“ bekannt gewordene Alfred Georg Hermann Henschke (1890-1928) hat in seinem kurzen Leben eine Fülle literarischer Werke veröffentlicht. Am bekanntesten waren und blieben sein Eulenspiegel-Roman „Bracke“ (1918) und das Bühnenstück „Der Kreidekreis“ (1915), von Zemlinski vertont und von Brecht als „Der kaukasische Kreidekreis“ adaptiert. Nach anfänglicher Kriegsbegeisterung, die auch in mehreren seiner Soldatenlieder erkennbar ist, wechselte er im Verlauf des Ersten Weltkriegs schon früh seine Haltung und bedachte die politische Entwicklung mit Skepsis und Satire, in die er auch kriegsverherrlichende Dichtungen des 19. Jahrhunderts einbezog.  Seine ungewöhnlich reichen literarhistorischen und volkskundlichen Kenntnisse, wie sie vor allem in seiner nachgelassenen „Geschichte der deutschen Literatur“, aber auch in seinem komprimierten meisterhaften „Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde“  (veröffentlicht 1920) dokumentiert. Diese genauen Kenntnisse bildeten die Grundlage für seine zahlreichen Pasticcii, die er unter anderen in seinem Gedichtband „Die Harfenjule“ (1927) veröffentlichte.
            Ein Pasticcio ist die Zusammenstellung recht genau oder bruchstückhaft zitierter Formen aus Werken verschiedener anderer Autoren, die in jüngerer Zeit meist in Gedichten mit satirischer Pointe begegnet. Ein berühmt gewordenes Beispiel ist Klabunds bitterböse Satire auf entartete familiäre Weihnachtsfeiern.
 
                  Bürgerliches Weihnachtsidyll
 
                  Was bringt der Weihnachtsmann Emilien?
                  Einen Strauß von Rosmarin und Lilien.
                  Sie geht so fleißig auf den Strich!
                  Oh Tochter Zions, freue dich!
 
                  Doch sieh, was wird sie bleich wie Flieder?
                  Vom Himmel hoch, da komm ich nieder.
                  Die Mutter wandelt wie im Traum.
                  O Tannenbaum, o Tannenbaum.
 
                  O Kind, was hast du da gemacht?
                  Stille Nacht, heilige Nacht.
                  Leis hat sie ihr ins Ohr gesungen:
                  Mama, es ist ein Reis entsprungen!
                  Papa haut ihr die Fresse breit.
                  O du selige Weihnachtszeit!
 
Es wird auch noch vielen heutigen Lesern der Verse ohne weiteres auffallen, daß Klabund sich als Material für sein Pasticcio ausnahmslos bei populären Weihnachtsliedern bedient, das er nicht nur reiht, sondern zum Teil geschickt mit seinem eigenen Text verbindet: Anrede an die Tochter als „Tochter Zions“ oder die Bekenntnisse des Mädchens „Vom Himmel hoch, da komm ich nieder“ und „Mama, es ist ein Reis entsprungen!“. Im einzelnen zitiert Klabund die Weihnachtslieder „Tochter Zion, freue dich!“, „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, „O Tannenbaum“, „Stille Nacht, heilige Nacht“, „Es ist ein Ros' entsprungen“ und als deutliche Anspielung „O du selige, o du fröhliche, gnadenbringende Weihnachtszeit.“
            Sehr viel schwerer wird sich der heutige Leser (und Quizteilnehmer) mit der Identifizierung der literarischen Brocken tun, die Klabund in ein anderes Lied eingebracht hat.
 
                                   Deutsches Volkslied
                       
                        Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
                        Daß ich so traurig bin.
                        Und Friede, Friede überall,
                        Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
 
                        Kaiser Rotbart im Kyffhäuser saß
                        An der Wand entlang, an der Wand.
                        Wer nie sein Brot in Tränen aß.
                        Bist du, mein Bayernland!
 
                        Wer reitet so spät durch Nacht und Wind
                        Ich rate dir gut, mein Sohn!
                        Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
                        Vom Roßbachbataillon.
 
                        O selig, o selig, ein Kind noch zu sein,
                        Von der Wiege bis zur Bahr'!
                        Mariechen saß auf einem Stein,
                        Sie kämmte ihr goldenes Haar.
 
                        Sie kämmt's mit goldnem Kamme,
                        Wie Zieten aus dem Busch,
                        Sonne, du klagende Flamme:
                        Husch! Husch!
 
                        Der liebe Gott geht durch den Wald,
                        Von der Etsch bis an den Belt,
                        Daß lustig es zum Himmel schallt:
                        Fahr wohl, du schöne Welt!
 
                        Der schnellste Reiter ist der Tod,
                        Mit Juppheidi und Juppheida.
                        Stolz weht die Flagge schwarzweißrot,
                        Hurra, Germania!
 
Hier sind weniger direkte Verbindungen unter den verschiedenen Versen aus älterer Literatur auszumachen als im Weihnachtslied, weil sich Klabund hier aufs bloße Zitieren beschränkt. Immerhin stehen zum Beispiel die beiden ersten und die beiden, die zweite und die letzte Strophe abschließenden Verse sowie die vorletzte Strophe insgesamt in einigermaßen sinnvollem Zusammenhang.
            Es sei versucht, die zitierten Verse aus vorgängiger Literatur, der Reihenfolge im Klabund-Gedicht entsprechend, aufzulisten.
 
            Es braust ein Ruf wie Donnerhall:  Erste Zeile des Liedes „Die Wacht am                                       
               Rhein“ (gedichtet von Max Schneckenberger 1840, Erstdruck 1854).
            Daß ich so traurig bin:  Zweite Zeile der „Loreley“ von Heinrich Heine.
            Und Friede, Friede überall:  Wohl nach der Schlußzeile in Johann Martin Millers „Der Eidbruch“ (1772):
               „Und Friede, Friede ist mit dir.“ 
            Das kommt mir nicht aus dem Sinn:  Vierte Zeile der „Loreley“ von Heinrich Heine.
            Kaiser Rotbart im Kyffhäuser saß: Nicht ermittelt; vielleicht Anspielung auf den berühmten    
               Gedichtanfang „Als Kaiser Rotbart lobesam“ von Ludwig Uhland.
            An der Wand entlang: Sprichwörtlich gewordener Kehrreim („Immer an der                       
              Wand lang, immer an der Wand entlang“) aus dem Chanson „Ich hab so manche tolle
              Zicke“
            von Hermann Frey (1907), das in der Vertonung von Walter Kollo sehr bekannt wurde.
            Wer nie sein Brot mit Tränen aß: Eingangszeile von Goethes Gedicht „Lied des Harfners“. 
            Bist du, mein Bayernland:  Nicht ermittelt; vielleicht in Anlehnung an den Beginn der 1860
               von Michael Öchsner verfassten und von Konrad Max Kunz vertonten Bayernhymne
               „Gott mit dir, du Land der Bayern“.
            Wer reitet so spät durch Nacht und Wind: Eingangszeile zu Goethes „Erlkönig“.
            Ich rate dir gut, mein Sohn: Refrain des Gedichts „Die Eisenbahndeputation“                 
               („Fahr nicht nach Berlin,/ Mein Sohn, ich rate dir gut“) von Hermann Löns und
                Anspielung auf Goethes „Erlkönig“-Ballade „Mein Sohn, was birgst du so bang dein
                Gesicht?“
            Urahne, Großmutter, Mutter und Kind:  Eingangszeile zu Gustav Schwabs Ballade „Das
               Gewitter“.
            Vom Roßbachbataillon: Nicht ermittelt. Es dürfte sich um eine Anspielung auf ein Lied des
               präfaschistischen Freikorps Roßbach (1919-1923) handeln, das als Jäger-Bataillon in die  
               Reichswehr übernommen worden war.
            O selig, o selig, ein Kind noch zu sein:  Refrain des von Salomon Reger gedichteten 
               Zarenlieds „Sonst spielt' ich mit Zepter“ aus der Oper „Zar und Zimmermann“  von Albert  
               Lortzing (1837).
            Von der Wiege bis zur Bahre: Sprichwörtlich; vgl. „Von der Wiege bis zur Bahre ist es nur
               ein kleiner Weg“ und des Klabund-Freundes Frank Wedekinds „Lebensregel“ („Von der
               Wiege bis zur Bahre: Der Besiegte hat die Ehre“).
            Mariechen saß auf einem Stein,/ Sie kämmte ihr goldenes Haar: Vgl. das Kinderlied
              „Mariechen saß auf einem Stein, einem Stein, einem Stein/ […]  sie kämmt ihr
               goldenes Haar.“ Den dritten Vers hatte schon Heinrich Heine in seine „Loreley“
               übernommen: „Sie kämmte ihr goldenes Haar.“
            Sie kämmt's mit goldnem Kamme:  Nach Heines „Loreley“: „Sie kämmt es mit goldenem
               Kamme.“
            Wie Zieten aus dem Busch: Sprichwörtlich („Er hüpfte hinüber husch, husch,/ Da kam der
               Zieten aus dem Busch“); vgl. den Schluß von Theodor Fontanes Gedicht „Der alte Zieten“
               („Wie selber er genommen/ Die Feinde stets im Husch,/ So war der Tod gekommen/ Wie
               Zieten aus dem Busch“).
            Sonne, du klagende Flamme: Beginn von Caput XII des „Wintermärchens“ von Heinrich
               Heine („Sonne, du klagende Flamme/ Das ist der Schluß des alten Liedes“).
            Husch! Husch!: Vgl. „Wie Zieten aus dem Busch“; onomatopoetisch in vielen  
               Kinderliedern.
            Der liebe Gott geht durch den Wald:  Ende der Eingangsstrophe aus dem Gedicht
               „Waldandacht“ von Leberecht Blücher-Drewes: „Dann gehet leise/ Nach seiner Weise/
               Der liebe Herrgott durch den Wald.“
            Von der Etsch bis an den Belt: Hoffmann von Fallersleben: „Das Lied der Deutschen“ –
               Beginn: „Deutschland, Deutschland, über alles [...]/ Von der Etsch bis an den Belt.“
            Daß es laut zum Himmel schallt: Nicht identifiziert. Die Wendung begegnet ähnlich häufig  
               etwa in den evangelischen Kirchenliedern „Empor zu Gott“ („Soll dein Lobgesang zum 
               Himmel schallen“) oder „Preis Gottes“ („Drum laßt sein Lob gen Himmel schallen“); 
               gegebenenfalls lagen Verse aus der Schlußstrophe des Soldatenliedes „Auf ihr
               Artilleristenbrüder“ (1892) näher: „Daß es einen Klang soll geben,/ Der zum Himmel  
               schallt.“
            Fahr' wohl, du schöne Welt!:  Wohl nach Franz von Dingelstedts „Weserlied“: „Fahr' wohl,
               fahr' wohl, du selige Zeit“ (1835).
            Der schnellste Reiter ist der Tod:  Sprichwörtlich; vgl. „Der schnellste Reiter ist der Tod,/ er
               ist noch schneller als das Morgenrot.“ - Gedichtitel von Emanuel Geibel
            Mit Juppheidi und Juppheida:  Nonsensikalischer (Kehr)Reim in vielen Volksliedern, zum
               Beispiel „Schön ist ein Zylinderhut/ Juppheidi, Juppheida/ Wenn man ihn besitzen tut.“
            Stolz weht die Flagge schwarzweißrot:  „Deutsches Flaggenlied von Robert Linderer in der
               Operette „Unsere Marine“(1883), Eingangszeile.
            Hurra, Germania!: Titel und Kehrreim des mehrfach vertonten Gedichts zum 25. Juli 1870
               „Hurra, Germania!“ von Ferdinand Freiligrath „Hurra, du stolzes, schönes Weib,/ Hurra,
               Germania!“
 
Klabund rechnete mit Recht damit, daß bei seinen Lesern die von ihm für seine Pasticcii ausgewählten Verse fast alle auch durch ihre Vertonungen besonders bekannt waren; das verstärkte natürlich den intendierten Déjà-vu-Effekt erheblich. Jedenfalls konnte er eine heute ungewöhnlich gewordene umfassende literarische Allgemeinbildung seines Lesepublikums voraussetzen.
            Sein Gedicht „Deutsches Volkslied“ ist weitgehend als mehr oder weniger subtile Satire zu verstehen, was ja zum Charakter jedes Pasticcios gehört.
           
            © Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022