Die Magie der Dinge

Stillebenmalerei 1500 - 1800

von Frank Becker
Vom Zauber der stillen Bilder

"Die Magie der Dinge"

Stillebenmalerei 1500 - 1800
Ein Buch von Jochen Sander


Man möchte diese lästige Fliege, die sich auf der appetitlichen Birne niedergelassen hat, in welche man am liebsten hineinbeißen würde, mit einer raschen Handbewegung verscheuchen. Den Schmetterling daneben betrachtet man hingegen mit Wohlwollen. Justus Juncker (1703 - 1767) hat das auch in seiner Ruhe beeindruckende Bild 1767 in Öl auf Eichenholz gemalt. Es steht in der Tradition eines Genres, welches vom Faszinosum der Naturähnlichkeit und dem der absoluten Stille lebt. Womit wir beim Wort sind: Still-Leben.

Noch bis zum 4. Januar 2009 ist im Kunstmuseum Basel eine berauschende Ausstellung zu sehen, die in Kooperation mit dem Frankfurter Städel Museum und in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Landesmuseum Darmstadt die üppige Pracht der mitteleuropäische Stillebenmalerei zwischen dem 16. und dem späten 18. Jahrhundert vor dem Blick des Besuchers ausbreitet. Zur Ausstellung ist im Verlag Hatje Cantz ein von Jochen Sander angemessen ebenso üppiger gestalteter Katalog erschienen, der auch dem Auge dessen, der nicht die Ausstellung sehen kann, das Schwelgen erlaubt.

Die Emanzipation

Die Stilleben-Malerei, "seit ihrer Emanzipation aus der religiösen Malerei des Spätmittelalters" (Jochen Sander), erlaubt bis ins Kleinste die Dinge des täglichen Gebrauchs, Gerätschaften,

Georg Flegel (1566-1638)
Nahrungsmittel und zubereitete Speisen, Insekten, vor allem aber Blumen und Früchte mit dem Auge des malenden Zeitgenossen zu betrachten, mehr: bis ins winzigste Detail zu studieren. 1744 definiert Heinrich Zedlers Universallexikon: "Stillliegende Sachen, heissen in der Mahler-Kunst und Architectur mancherley unbewegliche Dinge, als Blumen, Früchte, Speisen, Todte Thiere, Kupfferstiche, verschiedene Instrumente, Bücher, Briefschafften und dergleichen, welche auf einem Tisch, oder sonst wo, nach gefälliger, doch in angenehmer Ordnung liegend vorgestellet, und nach dem Leben abgebildet werden." Eine unersetzliche Quelle von kulturhistorischem Wert, denn bevor die Photographie im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkam und im Handumdrehen den Kunstmarkt eroberte, war das Stilleben das Medium, das getreulich festhielt wie man lebte und was man aß. In dieser Form der Malerei wurde akkurat und beeindruckend plastisch überwiegend ein Idealbild von Küche und Garten vorgestellt. Die Perfektion der alten Meister der niederländischen Schule ist unübertroffen, was ihnen folglich vor ihren französischen und deutschen Kollegen den meisten Raum in dem prachtvollen Bildband, der weit mehr als "nur" ein Katalog ist, sichert - wenn auch der in Mainz geborene Frankfurter Maler Justus Juncker (s.o.) mit seinen Früchte-Stilleben eine besonders herausragende Position einnimmt, was ihm nicht ohne Grund den prominenten Platz auf dem Umschlag eingebracht hat.

Lösung von der christlichen Ikonographie


Rachel Ruysch (1664-1750)
Sander wehrt zu Recht dem Versuch, zur Motivauswahl eine grundsätzliche und dogmatische christliche Ikonographie zu schaffen, wenn auch von Fall zu Fall eine solche angezeigt ist. Er betont sie Lust der Augen und die Freude des Malers am studierten Objekt. Diese Lust nebst der Freude überträgt sich unmittelbar auf den Betrachter. Jochen Sander beginnt seinen Rundgang durch die Geschichte des Stillebens mit einem brillanten Beispiel für die Schnittstelle zwischen mittelalterlicher Altarmalerei und dem damals aufkommenden modernen Genre: das von einem Altarflügel Barthélemy d´Eycks (1445) abgesägte obere Stück, welches ein Bücherbord zeigt, steht als Stilleben ohne die vorherige Verbindung zum Propheten Jesaja autonom da. Zugleich zeigt das Bild den Stand der damaligen Buchdruck- und Buchbindekunst. in hervorragender Darstellung. Das "Stilleben vor dem Stilleben" schleicht sich quasi ein. So zu sehen auch in Rogier van der Weydens "Medici-Madonna", der Bücher, Gerätschaften, Schlüssel und eine Vase mit (ikonographischen) Blumen zugeordnet werden. Ebenso verhält es sich bei Goossen van der Weydens Gemälde "Madonna mit Kind" (um 1500)
, auf dem die Dreidimensionalität durch eine als Hintergrund gemalte Bildergalerie und im Vordergrund aufgereihte Früchte, Blumen in einer Vase und ein Obstmesser erzeugt wird. Hier sehen wir bereits maßgebliche Elemente der klassischen Stilleben-Malerei.

Detailverliebt

Die Liebe zum Detail und zum brillanten Effekt, die Akkuratesse der nahezu photorealistischen Wiedergabe in Öl auf Leinwand oder Holz ergötzt den Betrachter heute nicht weniger als vor 500

Sebastian Stoskopff (1597-1657)
Jahren. Es ist eine Wollust der Augen, die mit nahezu körperlicher Unmittelbarkeit Besitz von dem ergreift, der sich auf die wunderschönen Bilder und ihre Einladung einläßt, eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen. Zierliche Weingläser lassen bei Georg Flegel (1566-1638) und Sebastian Stoskopff (1597-1657) ihre Fragilität erkennen, Petrus Willebeeck (1620-1648) fasziniert mit dem Funkeln einer ziselierten Silberschale und dem matten Glanz eines Zinnkruges im Ensemble mit einem Totenschädel und einer Pistole, die Ikonographie, hier einmal deutlich präsent, wird kundig erläutert. Wir sehen in üppiger Fülle immer wieder Brot, Fleisch, Geflügel, Gebäck und neben dem heimischen Früchten gerne Zitronen aus dem fernen Süden, Zeichen eines gewissen Wohlstandes.
Fische nehmen in der Folge von Clara Peeters Initialzündung (um 1621)  z.B. bei Frans Snyders (1579-1657), Jan van Kessel (1629-1676), Jan Dirven (1620-1653) und Alexander Andriaenssen (1587-1661) eine besondere Stellung ein, bilden ein eigenes Genre. Die Deutschen Abraham Mignon (1640-1679) und Johann Heinrich Roos (1631-1685) schwelgen in der Darstellung gefiederter Tiere - Roos hat in einem Bild von 1676 Kapaun, Taube, Schnepfe, Eichelhäher, Wiedehopf, Dompfaff, Eisvogel und Buntspecht in zwar toter, doch farblich und technisch beeindruckender Genauigkeit zusammengestellt.

Der Vanitas-Gedanke

Kommen wir zum barocken Vanitas-Thema und dem Memento mori vieler in Ausstellung und Katalog
 
Harmen Steenwyck (1612-1656)
gezeigter Gemälde. Das von einem Essay von Fred G. Meijer begleitete Kapitel beschäftigt sich mit der Vergänglichkeit von Reichtum und weltlichem Gut, mit der Sterblichkeit des Menschen in der Darstellung solcher angehäuften irdischen Güter und der knochigen Kalotte des menschlichen Schädels, Sitz von Verstand und Auge. Der Schweizer Johann Rudolf Loutherburg (1652-1727) weist in seinem Vanitas-Stilleben von 1697 geradezu plakativ mit einer verglimmenden Kerze, einer Taschenuhr mit aufgeklapptem Deckel und Glas sowie einer abgelaufenen Sanduhr, einer aus der Hand gelegten Fiedel, verwelkenden Blumen, aufgeschlagen liegengebliebenen Büchern (u.a. "L´ homme créé - der geschaffene Mensch", mit der Kapitelüberschrift "Un peu de boue" - (aus) ein wenig Schmutz),
über die Tischkante stürzenden Stapeln von Münzen und Tarot-Karten, die den Teufel, den Tod, das Weib und das jüngste Gericht zeigen, dem unter der Fiedel liegenden Testament eines Pierre Tena... (?), einem aus einem Ammonshorn gefertigten Pokal (das Ammonshorn taucht auf vielen süddeutschen Grabsteinen auf und gilt nach nicht gesicherten Quellen als Symbol für göttlichen Schutz) und einer für die "Realtivität des Irdischen" stehenden Miniatur mit Demokrit und Heraklit, dem lachenden und dem weinenden Philosophen, unmißverständlich darauf hin, daß mit Andreas Gryphius "alles eitel" ist oder mit Matthias Claudius: "Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder/Und er kömmt nimmer wieder". Einen subtilen Schwindel erlaubt sich Loutherburg mit einem Paar Würfel im Bild: die dem Betrachter zugewandten Seiten zeigen mit der Zwei und der Fünf die Summe Sieben. Das ist die damals bekannte Zahl der Planeten, auch die der sieben freien Künste und bekanntlich immer die Summe der Gegenseiten eines Würfels. Nur: die von Loutherburg gemalten Würfel sind falsch, denn sie zeigen auf der Oberseite mit der Drei und mit der Vier (einer vielfach mystischen Kombination) ebenfalls die Summe der Sieben. Das aber kann nicht sein, denn wenn sie nach vorne die Fünf und die Zwei zeigen, müssen oben zwangsläufig die Sechs und die Drei zu sehen sein. Wir haben es hier entweder mit einer frechen "Korrektur" um der Sieben willen zu tun oder mit einer tiefer gehenden Mystifizierung.
Einige beeindruckende Bilder zeigen den aller menschlichen Identität beraubten Schädel, so wie wir ihn vor dem Auge haben, denken wir an Shakespeares Prinzen Hamlet im berühmten Monolog "Sein oder nicht sein": Sebastian Stoskopff (1597-1657) hat ihm ebenso wie seine Malerkollegen die erlöschende Flamme der Kerze oder des Dochts beigegeben, Harmen Steenwyck (1612-1656)setzt ihm gar eine Mütze auf.

Pracht der Früchte und Blumen

Blumen, dazu Früchte aus Feld, Wald und Garten, kunstvoll und üppig arrangiert, mit Insekten, Dingen

Jacob Marrel (1613-1681)
des täglichen Gebrauchs
und Küchengerätschaften ergänzt, bilden das vielleicht farbenprächtigste Kapitel. Die Kartuschen- und Nischenbilder - Magdalena Kraemer-Noble hat sich mit diesem Thema beschäftigt - von Meistern aus den Niederlanden, der Schweiz, Deutschland und Italien überwältigen den Schauenden. Lilien, Rosen, Tulpen und Nelken in einer Pracht, wie man sie heute nicht mehr kennt, Gerbera und Weintrauben, kostbare Südfrüchte, auch einmal ein Hummer, eine Melone oder kostbares Porzellan dazu, protzen mit der Fülle der Natur. Abraham Mignon (s.o.) wird vielfach zitiert, er gehört zu den Sinnesfreudigsten der Sinnesfrohen Maler seiner Zeit. Pieter de Ring (1615-1660), Cornelis de Heem (1631-1695), Jan Davidsz de Heem (1606-1683) und Joris van Son (1623-1667) lassen uns mitschwelgen. Bei Jacob Marrel (1613-1681), Johann Rudolf Bys (1662-1738) und Abraham Mignon fonden wir verschwenderische ausgestaltete Beispiele für das Umrahmen eines Landschaftsbildes in einer Nische/Kartusche mit prächtig arrangierten Blumen- und Früchte-Gebinden in dreidimensionaler Darstellung. Ein herausragendes, wiederum die Grenzen des Genres sprengendes Bild ist Jan Brueghels d.Ä./Peter Paul Rubens´ "Allegorie des Sehens" (1617), welches eine umfassende Darstellung der bildenden Kunst transportiert.
Die Vasen-Arrangements von Jacob van Walscapelle (1644-1727), Rachel Ruysch (1664-1750) oder P.W. Windtraken (um 1690) entlocken uns mal um mal einen Seufzer, wie es auch die Stilleben der zeitgenössischen Malerin Patricia de Zutter (*1969) tun, die hier natürlich nicht vertreten ist, doch einen Hinweis auf ihre Arbeit rechtfertigt.


"Die Magie der Dinge"
- Stillebenmalerei 1500-1800 - Katalog zur Ausstellung in Frankfurt/M. und Basel, hrsg. von Jochen Sander - mit Essays von Jochen Sander, Stephan Kemperdick, Gerhard Bott, Fred G. Meijer, Julie Berger Hochstrasser, Ursula Härting, Magdalena Kraemer-Noble, Sam Segal, und Heidrun Ludwig
© 2008 Hatje Cantz, 366 Seiten, 246 farb. Abb., 24,80 x 30,60 cm, ISBN 978-3-7757-2206-3,  gebunden mit farb. Schutzumschlag, € 49,80


Weitere Informationen unter: www.hatjecantz.de und www.kunstmuseumbasel.ch