„Gewidmet allen Toten im Ukraine-Konflikt 2014“

Gidon Kremer, Mischa Maisky und Martha Argerich in einem Ausnahmekonzert

von Johannes Vesper

Foto © Peter Wieler

„Gewidmet allen Toten im Ukraine-Konflikt 2014“
 
Gidon Kremer, Mischa Maisky und Martha Argerich
Klavierfestival Ruhr in Wuppertal (am 24.01.2022)
 
Von Johannes Vesper
 
Seit 40 Jahren spielen die drei in wechselnden Besetzungen zusammen. „Wenn wir auf die Bühne gehen, ist es immer so, als ob wir verliebt wären“, sagte Gidon Kremer einmal über Martha Argerich, und Mischa Maisky gestand: „Am liebsten würde ich mit Martha das gesamte Repertoire für Cello und Klavier aufnehmen!“ Zu dritt allerdings, wie an diesem Abend, sind sie beim Klavierfestival Ruhr erst einmal zusammen aufgetreten, 2001 in Duisburg. Jetzt spielen diese drei Ausnahmekünstler wieder zusammen: letzte Woche im Konzerthaus Wien, vorgestern in der Historischen Stadthalle Wuppertal und gestern wieder im München, spielten und spielen sozusagen eine Geburtsgasmatinee für Gidon Kremer, der am 27. Februar seinen 75. Geburtstags feiert, bei wechselnder Besetzung wie auf einem Hauskonzert sozusagen. Zur Begrüßung macht Prof. Ohnesorg darauf aufmerksam, daß Martha Argerich nun zum 29. Mal, Gidon Kremer zum 6. und Mischa Maisky zum 9. Mal beim Klavierfestival auftraten. Ihre „Lebenslinien“ (Motto des Klavierfestivals für 2022) kreuzten sich seit Jahrzehnten immer wieder und die der Komponisten des Abends ebenfalls.
 
Zu Beginn gab es die Sonate Nr. 2 g-Moll (1796) des jungen Ludwig van Beethoven (1770-1827) für Cello und Klavier, der damit die beiden Instrumente zu gleichberechtigten Partnern erhob. Gewidmet wurde die Sonate dem Cellisten König Friedrich Wilhelm II von Preußen, der Luigi Boccherini (1743-1805) von 1786-1797 zum „Komponist unserer Kammer“ ernannt hatte. Tatsächlich scheint sie an Boccherini orientiert. Sie beginnt mit großer Adagio-Einleitung, die den langsamen Mittelsatz überflüssig macht. Der Pianistin (geboren 1941) merkt man ihr Alter nicht an. Flink, temperamentvoll, mit voller Kraft und lebhaftem Augenkontakt zum Cello spielte sie höchst differenziert den virtuosen Klavierpart dieses Duos, während Mischa Maisky mit voller Kraft sein wunderbares Cello gegen das Klavier in Stellung brachte, bis beide wieder in intensivem Piano versanken. Mit mächtigem Adagio zu Herzen gehend sang das Cello zu Beginn der Sonate, bevor nach Generalpause musikalischer Sturm und Drang attaca ausbrach, dessen atemberaubendes Tempo im Rondo des 3. Satzes (viel schneller als auf der Aufnahme der beiden bei der Deutschen Grammophon) zur Begeisterung des Publikums emotionale Dramatik nahezu versprühte.
 
Mieczysław Weinberg (1919-1996) mußte wie sein 13 Jahre älterer Freund und Mentor Dmitri Schostakowitsch mit der sowjetischen Musikideologie und dem Antisemitismus unter Stalin fertig werden. Als moldawisch-jüdisch-polnischer Exilant (geboren in Warschau) konnte er der Verfolgung durch die deutsche Nazi-Wehrmacht aus Warschau entkommen und lebte zu seinem Lebensende in der Sowjetunion, obwohl der Herkunft nach kein sowjetischer Künstler. Mit einem meditativ-elegischen Andante beginnt die Sonate No. 5 op. 53 aus dem Jahre 1953, in welchem er  dem stalinistischem Antisemitismus zum Opfer fiel und wegen ideologischer und politischer Unzuverlässigkeit inhaftiert wurde. Aus sowjetischer Haft kam er beim Tode Stalins auch infolge der Fürsprache seines Freundes Schostakowitsch wieder frei. Gibt es hier autobiographische Bezüge? Weinbergs Musik teilt das Schicksal jüdischer Komponisten, deren Musik durch die Nazi-Barbarei aus den Programmen verschwand und als „Musica reanimata“ wiederbelebt werden muß. Geschwind und aufgeregt läuft im 2. Satz (Allegro molto) das Klavier unter getragener Violinstimme (Allegro molto) los. Intensive Stakkatosynkopen, bei denen sich die Bogenhaare lösten, leiteten über zum quasi Bartokschen Tanz im 3/4 Takt des motorisch-rhythmischen 3. Satzes, dessen beklemmende Stimmung alles andere als ausgelassene Volksfeststimmung widerspiegelt. Daß mit kräftigem Solo die sonore Violine ein Thema vorträgt, welches an den Kanon „Oh wie wohl ist mir am Abend…“ erinnert, ist wahrscheinlich Zufall. Im letzten Satz huscht die Geige los, steht nach Ritardando auf der Pausenfermate still. Wiederholt pausiert der musikalische Fluß, bis mit liedhaftem Thema eine m-ta-ta-ta Tanzepisode im 4/4 Takt eingeblendet wird. Erhaltende Tonalität und reine Schlußakkorde, also alles andere als moderne Neutönerei, (Ironie sozialistischer Volkstümlichkeit?), charakterisieren die Musik dieses Komponisten, der auch mit Filmmusik bekannt wurde. Begeisterter Applaus.
 
Der ukrainische Komponist Valentin Silvestrow (geb. 1937) schrieb: „Die Musik muß so durchsichtig sein, daß man bis auf den Grund sehen kann und daß durch diese Durchsichtigkeit ein Gedicht hindurchschimmert“. Ursprünglich Bauingenieurswesen studierend, aber schon seit seiner Jugend der Musik zugewandt, wurden seine Werke nach einem Kompositionsauftrag der Koussevitzky Stiftung  im Westen mehr als in Rußland (z.B. Darmstädter Ferienkurse), aufgeführt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion arbeitete er in Ungarn, Polen, Österreich, Schweiz, den Niederlanden und in Deutschland (Staatskapelle Weimar 2017-18) als Residenzkomponist. 1998-99 als DAD-Stipendiat in Berlin lebend, wurden dort drei bedeutende Werke von ihm uraufgeführt. Zu seinem Sein 80. Geburtstag waren seine Werke in zahlreichen europäischen und amerikanischen Konzertsälen zu hören. Für die politischen Unruhen in Kiew 2014 kämpfte er mit Majdan-Hymnen und „Gebeten für die Ukraine“- Seine Serenade für Violine solo erinnert vom Charakter an andere musikalische Gebete - (Kol Nidrei (Max Bruch), Prayer (Ernst Bloch) - und zeigt die Zerbrechlichkeit der Musik, die Poesie einer Melodie und ihren Trost, der aktuell in seinem Heimatland benötigt wird. Der Ernst, mit dem der der lettische Geiger dieses anrührende Werk eines ukrainischen Komponisten aufführt, gab diesem Konzert eine besondere Dimension und Aktualität.
 
Das gleiche gilt für Igor Lobodas (* 1956) Requiem, welches er „allen, die seit 2014 in dem schrecklichen Ukraine-Konflikt ums Leben kamen“ gewidmet hat. Als Georgier, dessen musikalische Familie aus der Ukraine stammt, ist er für Konflikte mit dem mächtigen Rußland sensibilisiert, ging es doch im 1. (1991) wie im 2. (2014) russisch-georgischen Krieg um ähnliche Probleme wie in der aktuellen russisch-ukrainischen Auseinandersetzung. Bekannt als „Teufelsgeiger aus Ingolstadt“, lebt er seit 1990 in Deutschland. Sein Vater war zu Nazi-Zeit im KZ Dachau eingesperrt und sein Requiem wurde von den Berliner Philharmonikern uraufgeführt. Daß es ihm um Wahrheit und Frieden in der Welt geht, war bei diesem bewegenden Violinsolo wie auch bei Gidon Kremer zu spüren. Anschwellende, dann abreißende Klänge, langsame Glissandi, Schlagen des Bogens auf die Saiten, Pizzi der linken Hand zu leisem Bogentremolo: mit ersterbendem ppp und Pizzi-Pulsschlag blieb das Publikum am Ende vor dem auch zu Herzen gehenden großen Applaus zunächst still.
 

Foto © Peter Wieler

Auch das letzte Werk dieses Hauskonzertes dreier musikalischer Freunde und Weggefährten, das Klaviertrio Nr. 2 in e-Moll von Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) weist politisch-biographische Bezüge auf. Der Komponist hat es seinem Freund, dem Musikwissenschaftler Iwan Sollertinski, gewidmet, der 1944 im Alter von 41 Jahren an Herzinfarkt verstorben ist. Ihm verdanke er seine musikalische Bildung. Er habe ihm die Musik Gustav Mahlers nahegebracht, wird Schostakowitsch zitiert. Mit langem, kaltem, sordiniertem, geisterhaft-hohem pp Flageolett-Solo begann das Violoncello den ersten Satz, bis sich dann in tiefer Lage seelenvoll die Geige und später das Klavier mischen. Im temperamentvollen Allegro des zweiten Satzes ergänzten Geige und Cello kraftvoll die orchestrale Fülle des Klaviers. Nach überraschendem plötzlichem Schluß hebt das Klavier mit choralartigen Akkordschlägen zum „Trauermarsch“ des dritten Satzes an. Zunächst die Geige später auch das Cello ersetzten dann mit klagender Melodie die Worte, die Schostakowitsch in einem Brief fehlen, um den Schmerz beim Tode seines Freundes auszudrücken. Damit reiht sich das Werk ein in die Serie russischer Trios élégiaque (Glinka, Rachmaninoff, Tschaikowski). Zuletzt pocht der 4. Satz im Klavier los, der mit dem Pizzicato zunächst der Geige zunehmend an Struktur und Dynamik gewinnt und sich bis zu instrumentaler Raserei im Fortefortissimo mit vollem Körpereinsatz der Streicher zu einer Intensität steigerte, die unabhängig vom Alter selten erreicht werden kann. Nach letztem unwirklichem Flageolett brach der Beifall los. Bravi, Bravissimi, stehende Ovationen, Blumen vom Mäzen (Eberhard Robke van Gersheim Stiftung) gab es eine Zugabe. Was soll man danach spielen? Es gab Franz Schubert (D776) n ach dem Gedicht von Friedrich Rückert: „Du bist die Ruh, der Friede mild…)“. Ein Fest der Kammermusik, welches man als Zuhörer nicht oft erlebt.
 
Gidon Kremer, Mischa Maisky und Martha Argerich im Großen Saal der Historischen Stadthalle Wuppertal: Ludwig van Beethoven: Sonate für Violoncello und Klavier Nr. 2, g-Moll op. 5/2, Weinberg: Sonate für Violine und Klavier Nr. 5 op. 53, Valentin Silvestrov: Serenade für Violine solo, Igor Loboda: „Requiem“ für Violine solo (Dedicated to the endless sufferings of Ukraine). Dmitri Schostakowitsch: Klaviertrio Nr. 2 in e-Moll op. 67.
Mehr Informationen: www.klavierfestivalruhr.de