„Das folgt halt wie aufs A das B“

Zur Reihenfolge der Buchstaben im Alphabet

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Das folgt halt wie aufs A das B“
 
Zur Reihenfolge der Buchstaben im Alphabet
 
Von Heinz Rölleke
 
 
In der Eingangsszene des „Jedermann“-Spiels von Hugo von Hofmannsthal versucht der reiche Mann den Schuldknecht mit einer Metapher zu belehren, die offenbar keine Mißdeutung zuläßt: Wenig steht immer so fest wie seit Jahrtausenden die Reihenfolge der Buchstaben im Alphabet. Auch der Sprichwortgebrauch geht davon aus: „Auf A folgt B“, „Wer A sagt, muß auch B sagen.“
 
Über diese feststehende Reihenfolge hat man sich immer gewundert, aber selten eine eindeutige und gänzlich überzeugende Erklärung gefunden. Eine Musterkarte des zu untersuchenden Materials hat Clemens Brentano auf der Basis eines Rätselliedes aus der Mitte des 16. Jahrhunderts zu Beginn der „Kinderlieder“ im Anhang zu „Des Knaben Wunderhorn“ (1808) in kindlichem Vokabular gegeben. Unter dem Titel „Die ABC-Schützen“ stellt er 18 Konsonanten des Alphabets als „achtzehn fremde Gesellen“ vor, von denen keiner ein Wort sprechen kann, wenn nicht Vokale („hochgelehrte Leut“) dazu treten. Diese werden als A, E, I, O, U wie folgt vorgestellt:
 
                        Der erst erstaunt, reißts Maul auf weit,
                        Der zweite wie ein Kindlein schreit,
                        Der dritte wie ein Mäuslein pfiff,
                        Der vierte wie ein Fuhrmann rief,
                        Der fünft gar wie ein Uhu tut,
                        Das waren ihre Künste gut.
                        Damit erhoben sie ein Geschrei,
                        Füllt noch die Welt, ist nicht vorbei.
 
Vokale - in dieser Reihenfolge! - bestimmen seit Urzeiten das menschliche Sprachvermögen. 
            Was die Bezeichnungen der rätselhaften Buchstabenfolge betrifft, so heben diese seit je ebenfalls auf das feststehende Nacheinander der Lautbezeichnungen ab: „Alphabet“ im Griechischen ist aus den beiden ersten Buchstaben abgeleitet: α und β (Alpha und Beta). Im Deutschen besteht die Bezeichnung „Abc“ aus den drei ersten Buchstaben: A B C. Die weitere Sortierung der Buchstaben zu einer immer gleichen Reihenfolge läßt sich bis auf die Phönizier um 10.000 v. Chr. zurückverfolgen. Die Griechen übernahmen im Wesentlichen von diesen um 9.000 ihr Alphabet, das von α bis ω (Alpha bis Omega) reicht. Daraus leitete der Verfasser der Geheimen Offenbarung seine dreimalige Bezeichnung des Gottessohns Christus ab: „Er ist das Α und das Ω, das Alpha und Omega, das A und das O, der Anfang und das Ende“ (Offb. 1.8, 21.6, 22.13); das bedeutet: Gott ist allumfassend..
            Für den linguistischen Laien jedenfalls scheint es noch immer nur wenige, kaum erhellenden Untersuchungen  - geschweige denn gänzlich überzeugende Ergebnisse zur Begründung der im Alphabet festgelegten  Reihenfolge der Buchstaben zu geben, besonders was die Platzierung der fünf Vokale betrifft.
            Allerdings wurde das A in den alten Sprachen ohne Weiteres als der Basisvokal (phönizisch Aleph) anerkannt, der allen Wortbildungen zugrunde liegt. Es mag das mit der Hochschätzung des Wassers durch die Neptunisten als Ursprung allen Lebens zusammen hängen, da man das A zu allen Zeiten in vielen Bezeichnungen für das nasse Element fand.
            Das Alpha ist also immer der Beginn der Buchstabenreihung und zugleich stets der von den fünf Vokalen zuerst Genannte. Bleibt die Frage, warum die vier anderen Vokale von E bis U immer und in allen Alphabeten in einer festgelegten Reihenfolge erscheinen.
            Eine Spur zur Begründung könnte mit der Entdeckung des Vokaldreiecks in der 1781 erschienenen Dissertation des deutschen Arztes Christoph Friedrich Hellwag gegeben sein, der er selbst allerdings keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. 
            Ausgehend von der Zungenwölbung bei der Vokalbildung im Mundraum kam er zu dem bis heute anerkannten und vielfach genutzten Darstellung eines Dreiecks. Seine Skizze zeigt den 'tiefen' (grundlegenden) Vokal A, der mit flach liegender Zunge ohne Wölbung artikuliert wird, als Basis: I und U bilden die  beiden Spitzen gemäß ihrer durch die Zunge gegebenen Artikulationsstellen; die Mittelstellen nehmen E und U ein.
 
                                               I                           U
                                              
                                                    E          O    
 
                                                             A      
 
Die Skizze  deutet an, daß die Zunge bei der Tonbildung des Vokals A flach im Mund liegt, sozusagen als Ausgangspunkt für die übrigen vier Vokale, die durch variierende Zungenlagen geformt sind. Davon geht übrigens die Bezeichnung des A als Kadaverlaut aus: Wenn ein Sterbender noch einen Laut bei seinem letzten Atemzug von sich gibt, so ist es unweigerlich ein A, weil der Unterkiefer und mit ihm die Zunge kraftlos nach unten gesunken ist. 
            Sehr merkwürdig ist, daß die Reihenfolge der Vokale in den Alphabeten genau den Erkenntnissen Hellwags entspricht: Auch in seinem Vokaldreieck folgen die Vokale nacheinander wie in den Alphabeten, wenn man A als Basisvokal für die beiden aufsteigenden Reihen wertet: A E I, A O U. In den Alphabeten und im Vokaldreieck lauten die übereinstimmenden Reihenfolgen A E I O U. Und das findet sich so schon im phönizischen Alphabet und in allen diesem folgenden.
            Die Frage bleibt bislang unbeantwortet, wie es zur in allen Alphabeten weitgehend identischen Reihung der Konsonanten zwischen den fünf Vokalen gekommen ist.
            Auffällig ist eine merkwürdige Symmetrie am Anfang der Alphabete. Zwischen den Vokalen A und E sowie zwischen E und I sind je drei Konsonanten platziert, zwischen I und O sowie O und U jeweils fünf.
 
                        altgriechisch
 
                        Α  βγδ  Ε  ζηθ  Ι κλμνξ  Ο  πρςστ  Υ
 
                        deutsch
 
                        A  bcd  E  fgh  I  jklmn  O  pqrst  U
 
Ob diese Übereinstimmungen zufällig sind  - was kaum zu glauben ist -  oder nicht:  Es gilt auch hier vorerst noch immer das Brecht-Wort: „Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022