Kinotips für die Feiertage (2)

„Monte Verità – Der Rausch der Freiheit“ - „Ein Festtag“ - „Clifford – Der große rote Hund“

von Renate Wagner

Monte Verità – Der Rausch der Freiheit
Schweiz, Deutschland, Österreich 2021


Regie: Stefan Jäger
Mit: Maresi Riegner, Max Hubacher, Philipp Hauß; Julia Jentsch u.a.
 
Monte Verita“ war ein soziales und psychologisches Experiment rund um das Fin de Siècle, und da sich unter den damals ebenso mutigen wie übermütigen „Aussteigern“ auch später berühmte Namen fanden (etwa Hermann Hesse), ist das ganze Projekt im Gedächtnis geblieben. Daß die Befreiung aus einer strikt genormten Welt damals noch nicht gelingen konnte, versteht sich. Es ist eine Station in der Geschichte der verschiedenen Kommunen-Experimente.
Der Schweizer Regisseur Stefan Jäger versucht nun ein Thema, das eigentlich nach einer ordentlichen, analytischen Dokumentation ruft, als Spielfilm plastisch zu machen, an Hand eines erfundenen Frauenschicksals. Dazu bemüht er prächtiges Jugendstilambiente und rauschende Musik, ein korrekter Historienfilm, der nicht chronologisch erzählt wird, sondern oft die Zeitebenen wechselt.
 
Die Stimme von Hanna Leitner (Maresi Riegner) klingt aus dem Off, sie erzählt ihren Töchtern ihr Schicksal. Als alles beginnt, ist sie 1906 eine 29jährige, großbürgerliche Ehefrau in Wien, die durchaus Interesse am Beruf ihres Gatten (Philipp Hauß), eines erfolgreichen Fotografen, hätte. Das kann er allerdings nur lächerlich finden und fordert sie schroff auf, mit ihrem Leben gefälligst zufrieden zu sein. Das einzige, was er von der Frau, die bisher zwei Töchter geboren hat, noch erwartet, ist ein Sohn – dafür schickt er sie zu allen möglichen Ärzten und dubiosen Therapien.
Einer davon ist Otto Gross (Max Hubacher), eine in der Geschichte äußerst zwiespältige Persönlichkeit, drogensüchtig und als Psychiater immer geneigt, mit seinen Patientinnen ins Bett zu gehen. Immerhin gibt sich die zutiefst unzufriedene, von ihrem Gatten sexuell brutal bedrängte Hanna einen Ruck – und folgt Gross in die Schweiz, auf den Monte Verita bei Ancona, wo Ida Hofmann (Julia Jentsch) das Experiment einer „Selbstbefreiungs-Kommune“ gestartet hat. Diese gibt sich quasi als Sanatorium für seelische Gesundung, ist aber reine Ideologie – Nacktheit, Sex, Vegetarismus und alles inbegriffen, was die Welt damals schockieren kann.
Der interessante Aspekt des Films besteht darin, daß Hanna die längste Zeit durchaus als Skeptikerin gezeigt wird, die das Brimobrium von orgiastischen Entfesselungs-Zeremonien um Lagerfeuer durchschaut und eigentlich bald wieder abreisen will. (Es gibt wirklich viel Psycho-Geschwätz hier.) Gemüse anbauen und in lockeren Reformkleidern herumgehen, ist ja nicht so großartig.
 
Aber sie kann hier ihrem Hobby, der Fotografie, nachgehen, und nach und nach erlebt die Bürgerfrau, die im Korsett und mit drapierter Frisur hier ankam, den Reiz der Freiheit und Selbständigkeit. (Sich auch eine Beziehung mit einer Frau einzulassen, dazu kann sie sich doch nicht entschließen.) Und schließlich kreuzen, wenn auch nur beiläufig, interessante Persönlichkeiten auf – Hermann Hesse (Joel Basman) liest eine Art von Dada-Texten, Isadora Duncan (Eleonora Chiocchini) tanzt.
Obwohl man die Atmosphäre auf dem Monte Verita ziemlich gut nachvollziehen kann (und das bei allem optischen Nostalgie-Reiz ohne Idealisierung, im Gegenteil, durchaus in seiner Fragwürdigkeit), geht es dann doch um das Schicksal der Hanna Leitner, der ein wutschnaubender Gatte folgt, mit zwei Töchtern, die er ganz gegen die Mutter programmiert hat und denen sie in Briefen zu erklären versucht, was sie getan hat.
Schließlich ist sie ja eine Überzeugte des Monte Verita geworden, wobei Hauptdarstellerin Maresi Riegner den Film im Grunde mit wenigen Nuancen und zweifelnder Miene durchschreitet. Nur am Ende strahlt sie verinnerlicht, die Musik rauscht auf, und wir begreifen, daß aus der Zweiflerin eine Erlöste wurde. Jeder Mensch muß schließlich, so lautet die finale Weisheit und Botschaft, seinen eigenen Weg im Leben finden.
Der Regisseur bringt ziemlich deutlich zum Ausdruck, was er sagen will. Aber als besonders aufregend erscheint das Experiment Monte Verita und das Schicksal der Hanna Leitner nicht…
 
 


Ein Festtag
Mothering Sunday - GB 2021

Regie: Eva Husson
Mit: Odessa Young, Colin Firth, Olivia Colman, Glenda Jackson, Josh O’Connor u.a.
 
England vor hundert Jahren. Eine Gesellschaft geprägt von ihren starren sozialen Strukturen und von der Katastrophe des Großen Kriegs, wie er damals noch hieß, der in so gut wie jeder Familie einen hohen Blutzoll gefordert hat. Erzählt wird die Geschichte eines Dienstmädchens – erzählt von ihr selbst, denn sie hat es später zur Schriftstellerin gebracht. Solcherart ist es auch eine Emanzipationsgeschichte, um die allerdings wunderbar wenig Getöse gemacht wird. Britische Nobelesse bis ans Ende, wenn Odessa Young als die junge Jane Fairchild sich dann kurz in Glenda Jackson als ihr altes Selbst verwandelt.
 
Muttertag“ ist auch in England ein Festtag, da darf auch schon ein Dienstmädchen frei bekommen, wohl vor allem, um seine Mutter zu besuchen. Und man kann nicht sagen, daß June von ihrer noblen Herrschaft schlecht behandelt wird. Ihr Arbeitgeber Mr. Niven (wunderbar Colin Firth) ist durchaus freundlich. Die Gnädige Frau (die bei anderer Gelegenheit „oscar“-gekrönte Olivia Colman) hingegen ist von ihren Verlusten zerrüttet. Wenn sie schon einmal mit June redet, aus Muttertags-Gründen nach deren Mutter fragt und erfährt, daß June Waise ist, kann sie in Erinnerung an ihre gefallenen Söhne nur sagen, wie gut sie es hätte, sie könne niemanden verlieren.
Aber der von der französischen (!) Regisseurin Eva Husson wunderbar ins britische Milieu eingepaßte Film, der Gefühl zuläßt, ohne je ins Triefen zu geraten, berichtet sehr wohl von Verlust. Wobei June weiß, daß Paul (Josh O’Connor), der junge Mann aus guter Familie sie vermutlich ehrlich liebt, aber sich dennoch nie zu ihr bekennen wird. Er wird nach den Regeln seiner Klasse handeln, wird June verlassen und hingehen, um eine von allen Seiten gebilligte, „passende“ Ehe einzugehen. Noch ein letztes Liebestreffen davor – und dann ist es zu Ende.
Aber ganz anders als gedacht. So, wie Mr. Niven June vorsichtig sagt, daß Paul am Weg zur Verlobungsfeier tödlich verunglückt ist, hat er vielleicht ohnedies geahnt, was da gelaufen ist. Und alles, was June übrig bleibt, ist die britische Haltung zu bewahren, statt in Verzweiflung zusammen zu brechen.
 
Viele Romane und Filme haben uns Einblick gewährt in die lange Zeit (heute noch?) verkrusteten Strukturen einer englischen Gesellschaft, in der für die Menschen so vieles eisern vorbestimmt ist und die wenigsten sich wirklich dagegen auflehnen, von Brideshead bis Downton Abbey (diese waren allerdings, wenn man es so sagen darf, unterhaltender). Diesem Film liegt eine Novelle von Graham Swift zugrunde. Aus Junes Erinnerung erzählt, wenn sie schon als Schriftstellerin mit einem schwarzen Partner, dem Philosophen Donald (Sope Dirisu) zusammen lebt (damals auch noch sehr mutig), wirbelt der Film die Zeitebenen durcheinander und spinnt die Theorie, daß wichtige Dinge nur aus Tragödien heraus wachsen.
June hat nach Pauls Tod das Dienstmädchen-Dasein verlassen, wurde Verkäuferin in einem Buchladen und fand ihre Berufung als „Beobachterin der Wirklichkeit“, wie ihr PoC-Gefährte (der beim Heiratsantrag stottert) sagt, als ihr jemand eine alte Schreibmaschine schenkte, weil er sich eine neue kaufte.
Es ist ein stiller und langsam erzählter Film, der weder die Tragödie hochspielt noch die Emanzipationskarriere, die June zu einer offenbar sehr erfolgreichen Schriftstellerin macht. Milieu und Schicksal. Man ist in England. Trotz der französischen Regisseurin.
 
 
 
 
 

Clifford – Der große rote Hund
USA 2021

Regie: Walt Becker
Mit: Darby Camp, Jack Whitehall, Tony Hale, John Cleese u.a
 
Zuerst ist da ein ganz normales kleines Hundebaby. Das heißt, so normal auch wieder nicht – denn sein Fell ist über und über feuerrot, gewissermaßen ein Titus Feuerfuchs der Tierwelt. Und ein paar Kinominuten später kommt es noch dicker – da ist das ehemalige Hündchen, nämlich so groß wie ein mittlerer Elefant. Das rückt das Geschehen in die Nähe von Märchen und Fantasy, allerdings gemischt mit realer Gegenwart – kurz, es ist der diesjährige Weihnachts-Kinderfilm.
 
Dieses Genre ist, wie man weiß, zur Belehrung der kleinen Besucher (und möglicherweise zum Erkenntnisgewinn der Erwachsenen) gedacht. Basierend auf einem längst nicht mehr neuen Kinderbuch (die gleichnamige Serie von Norman Bridwell ist seit 1953 in zahlreichen Folgen erschienen), wird hier auf mehreren Ebenen die klassische Außenseiter-Geschichte erzählt. Der seltsame Mr. Bridwell (kein Geringerer als John Cleese, nicht auf Anhieb erkennbar) hat das Hündchen Clifford der 12jährigen Emily (Darby Camp) geschenkt.
Schon sie ist nicht wie alle anderen, wird in der Schule gemobbt, muß sich durchsetzen. Ihre Mutter, die arbeiten muß, gibt sie kurzfristig in die Obhut ihres Bohemien-Onkels (komisch: Jack Whitehall), was sie nicht tun sollte, aber dem Film den zweiten liebenswert-verrückten Außenseiter beschert. Na, und der dritte ist natürlich der rote Riesenhund, der zwar aus dem Computer kommt, aber – weil eben Hund, auch die Maschinen können das – liebenswerter ist als die meisten Menschen. (Er ist übrigens kein Disney-Tier, er spricht folglich nicht, aber Tiere haben ja bekanntlich eine höchst ausdrucksvolle Körpersprache.)
Die Handlung entwickelt sich logisch, die Welt reagiert natürlich auf eine Abnormität, vor allem gibt es Leute (als Bösewicht: Tony Hale als Zac Tieran), für die so ein Tier als Versuchskaninchen für alle möglichen Experimente einen Wert hat, und die Behörden mischen sich auch ein… kurz, Emily und ihr Onkel sind schwer beschäftigt, alle Bösen abzuwehren, ihren Hund davor zu bewahren, nach China verschifft zu werden, und der Welt klar zu machen, daß Außenseiter, die niemandem schaden, ihr Recht auf eine Existenz haben. Kinder lernen außerdem, daß man sich wehren soll und fest um das Gute, Wahre und Schöne kämpfen. In diesem Fall hat man nichts dagegen, daß die Moral knüppeldicke verkündet wird.
Der Film von Regisseur Walt Becker ist unterhaltend und liebenswert, und wenn es unter heutigen Kindern noch kindliche Gemüter mit Herz und Gerechtigkeitssinn gibt, werden sie mit Cliffords Schicksal bis zum Happyend mitfiebern.
 
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Renate Wagner
 
Redaktion: Frank Becker