Lämmerhirt um Längen voraus (6)

von Joachim Klinger

Joachim Klinger pinx.
Lämmerhirt um Längen voraus
 
IX
 
Als es bei Herrn Lämmerhirt an der Zimmertür klopfte, zeigte die Uhr die sechste Stunde an. Prälat Saletta war munter wie tags zuvor. Auf seine Bitte schlüpfte Herr Lämmerhirt in die helle Soutane. Das Treffen der vier eingeweihten Männer fand in dem hohen Raum statt, in dem man das erste Beratungsgespräch geführt hatte. Vier Tassen mit duftendem Kaffee standen auf dem großen Tisch.
Die beiden Experten hatten einige Materialien mitgebracht, vor allem zwei detaillierte Baupläne der Kuppel und einen Fotoapparat, natürlich auch Stifte, ein paar kleine Tüten, einen Meißel und Tücher. Die Experten erklärten, Prälat Saletta übersetzte, und Herr Lämmerhirt nickte. Prälat Saletta reichte ihm eine geräumige Umhängetasche, und Herr Lämmerhirt verstaute seine „Instrumente” darin.
Als sie aufbrachen, zeigte sich, daß der Raum einen geheimen Ausgang hatte. Es gab eine nicht erkennbare Tapetentür, die ihnen eine spärlich erleuchtete Stiege zugänglich machte. Am Ende der Stiege erreichten sie eine schmale Metalltür mit leuchtenden Druckknöpfen und betraten einen Aufzug, der maximal vier Personen faßte. Dann kam eine Wendeltreppe, und Herrn Lämmerhirt war klar, daß sie innerhalb des Bauwerks eine beträchtliche Höhe erreicht hatten.
Der Baumeister ging rasch voran und machte sich an einer Tür zu schaffen, neben der einige Geräte standen. Er schloß die Tür auf, und das Licht des Morgens ergoß sich über ihn und Herrn Lämmerhirt.
Dieser sah nicht auf das prächtige Panorama, das die Ewige Stadt bot, und nahm nur flüchtig wahr, daß der Prälat das Kreuzzeichen schlug. Er fühlte, daß seine Füße festen Halt auf einem breiten Steinkranz fanden, und machte sich auf den Weg, die Wölbung der Domkuppel betastend.
Die steinernen Rippen gliederten die Kuppel in große Segmente, die eine systematische Spurensuche erlaubten.
Herr Lämmerhirt bemühte die Architektenzeichnung und vermerkte, wo er seine Arbeit aufnahm. Die allmähliche Verlängerung seines Körpers machte ihm die genaue Prüfung jedes Abschnitts möglich und gab ihm das Gefühl, umsichtig und in absoluter Sicherheit zu Werke zu gehen.
Als er das dritte Segment in Augenschein nahm, bemerkte er in der Nähe der „Krone”, also am äußersten Ende der Wölbung, einen hellen Fleck, etwa in der Größe einer menschlichen Hand. Das mußte die Schadstelle sein.
Das Loch war nicht tief. Der Meißel, den er einführte, stieß schon bald auf Widerstand. Nach allen Seiten war Mörtel weggeplatzt, und ein Riß verlor sich nach ca. einem Meter im Verputz. Herr Lämmerhirt tat Mörtelproben in Tüten, maß aus, schrieb auf und dokumentierte den Schadensbereich fotografisch.
Schließlich verstaute er alles in seiner Schultertasche, ließ den „Schrumpfungsprozeß” zufrieden über sich ergehen und ging zurück zu der Tür, wo der Baumeister wartete. Er händigte ihm die Tasche aus, hob zum Zeichen des Erfolges die rechte Hand mit ausgestrecktem Daumen und machte mit einer weit ausholenden Bewegung des Armes deutlich, daß er vorsichtshalber die Kuppel noch weiter inspizieren wolle. Der Baumeister nickte kräftig und hob die Hand zum Gruß.
Herr Lämmerhirt ließ es nicht an Sorgfalt mangeln. Aber er fand nur noch unbedeutende Verschmutzungen und konnte zusammen mit dem Baumeister den Abstieg im Innern des Gebäudes beginnen. Natürlich dachte er dabei nach, wie das Loch wohl entstanden war. Ganz gewiß kein Sprengstoff-Anschlag, vielleicht ein „Steinschlag aus dem All”. Die Bezeichnung „Meteorit” fiel ihm im Augenblick nicht ein.
 
 
Fortsetzung morgen.

© Joachim Klinger 2021