Lämmerhirt um Längen voraus (4)

von Joachim Klinger

Joachim Klinger pinx.
Lämmerhirt um Längen voraus
 
V
 
Der Artikel erschien einige Tage später mit der Überschrift „Lämmerhirt – um Längen voraus!” Er war nicht besonders spannend, hatte aber einen flotten Erzählton und entsprach im Wesentlichen dem Ergebnis des Interviews in der Wohnung Lämmerhirt. Allerdings hatte der Journalist noch einen Experten befragt, nämlich Professor Wetzold vom Institut für Wachstumsforschung in Hamburg-Blankenese. Mit dem Fall Lämmerhirt konfrontiert, führte dieser aus, eine derartige Verlängerungsmöglichkeit des menschlichen Organismus habe er bisher nicht erzielen können, aber ausschließen könne man sensationelle Erfolge nicht. Im übrigen verwies er auf sein Buch „Höher hinaus, auch körperlich!”.
Alles in allem war der Artikel so abgefaßt, daß er nach Meinung von Herrn Lämmerhirt kein Aufsehen erregen würde. Das war ihm nur recht.
Aber es gibt gründliche Zeitungsleser, die z.B. neue Entwicklungen ausfindig zu machen suchen, die ihnen von Nutzen sein könnten.
Die ersten Besucher, die sich bei Herrn Lämmerhirt einstellten und an seinen Verlängerungsmöglichkeiten interessiert waren, vertraten ein großes Reinigungsunternehmen, das sich auf die Säuberung von Wolkenkratzern mit Glaswänden und -fenstern spezialisiert hatte. Herr Lämmerhirt lehnte das Ansinnen ab, die vielfältigen Arbeiten zu überprüfen, obwohl die Herren mit beträchtlicher Vergütung lockten.
Dann versuchte der Leiter einer international vernetzten Detektei Herrn Lämmerhirt zu erweichen, Späh-Aufträge in Sonderfällen zu übernehmen. Er dachte z.B. an die Ausforschung von Unternehmen und Behörden, die wirksame Sicherungsmaßnahmen trafen, aber doch manchmal in schwindelnder Höhe ein Fenster unverschlossen ließen. Herr Lämmerhirt lehnte ab.
Danach gab es noch einige Versuche von Privatleuten, Herrn Lämmerhirt für spezielle Hilfsaktionen zu gewinnen. Einmal ging es um die Vergoldung eines Zwiebeltürmchens der Schloßgaststätte Eberstein, ein anderes Mal um die Verankerung eines Baumhauses in der uralten Linde von Rummelsroda. In diesen und weiteren Fällen lehnte Herr Lämmerhirt kategorisch und bereits mit vorgedrucktem Text ab.
Danach blieb es ruhig. Ruhig bis zu einem Anruf aus Köln in den frühen Morgenstunden. Herr Lämmerhirt, seit Jugendtagen Frühaufsteher, meldete sich am Telefon und lauschte einer sonoren Stimme. „Hier ist das Ordinariat der Erzdiözese Köln, Monsignore Lachmund. Spreche ich mit Herrn Lämmerhirt?”
Herr Lämmerhirt bejahte und fragte höflich nach den Wünschen des Monsignore. „Eine heikle Geschichte, lieber Herr Lämmerhirt, eine Sache, die höchste Diskretion verlangt. Ich habe mit dem Ihnen gut bekannten Dechanten Rommerskirchen gesprochen. Er wird Sie hierher nach Köln begleiten. Bitte kommen Sie möglichst bald!”
Da konnte man nicht widersprechen oder nach Ausflüchten suchen.
 
VI
 
Herr Lämmerhirt hatte nicht die Zeit, über Absichten der Erzdiözese Köln nachzudenken, die ihn betreffen konnten. Schon klopfte es an der Tür und Dechant Rommerskirchen trat ein, wie immer mit gerötetem Gesicht und frohgemut. „Ja, lieber Lämmerhirt”, strahlte er, „auf geht’s nach Köln! Die Kirche ruft, und da darf man nicht zögern!”
Herr Lämmerhirt kochte zunächst einen kräftigen Kaffee – den hatte er jetzt dringend nötig – und schob dem Dechanten die blaue Keramikschale, die er neu mit Gebäck gefüllt hatte, neben seine Tasse.
„Fragen Sie mich nicht, worum es geht, lieber Lämmerhirt!” sagte der Dechant, „wenn Monsignore Lachmund, ein alter Freund von mir, nichts sagen will, dann kann man nichts herauskriegen. Aber die Angelegenheit muß wichtig sein, sonst hätte er mich nicht gedrängt, Sie umgehend nach Köln zu bringen.”
Er schlürfte genießerisch seinen Kaffee und fügte hinzu: „Und nehmen Sie ein Köfferchen mit! Wäsche für drei Tage dürfte genügen.”
Am späten Nachmittag kamen sie in Köln an und legten den kurzen Weg vom Hauptbahnhof zum erzbischöflichen Palais zu Fuß zurück. Dort empfing sie Monsignore Lachmund, jovial und geschäftig. Er ging mit ihnen einen langen Flur entlang bis zu einem Raum, in dem ein einzelner Geistlicher an einem Schreibtisch saß und in Papieren blätterte.
„Verehrter Herr Prälat Saletta, hier ist also Herr Lämmerhirt”, mit diesen Worten stellte man ihn vor. „Prälat Saletta arbeitet im Vatikan”, erläuterte Monsignore Lachmund.
Der Prälat, ein älterer Herr mit klugem Gesicht, reichte Herrn Lämmerhirt die Hand und sagte: „Nehmen wir einen Augenblick Platz. Der Herr Kardinal wird uns gleich rufen lassen.”
 

Fortsetzung morgen.

© Joachim Klinger 2021