„Davon glaube ich kein Wort!“

Ludwig Boltzmann in der Anekdote (3)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer

„Davon glaube ich kein Wort!“

Ludwig Boltzmann in der Anekdote

Von Ernst Peter Fischer
 

137

Ludwig Boltzmann (3)
 
Übrigens – Boltzmann liebt alkoholische Getränke, und das viele Wasser, das ihm auf seiner Amerikareise angeboten wird, bringt seinen Magen in Unordnung. Auf der Rückreise mit dem Schiff trinkt er endgültig keinen Tropfen Wasser mehr, „desto mehr edlen Rüdesheimer“, was einen besonderen Vorteil hat. Denn „auf dem Schiff ist das so günstig; wenn man ein wenig wackelt, schreibens alle der Schiffsbewegung zu“, wie er in seinen Plaudereien gesteht.
       Zwar brachte die kalifornische Reise einige Strapazen mit sich, aber er bekommt auch die Gelegenheit, bei einigen der Superreichen einzukehren, von denen ein paar der privaten Universitäten Kaliforniens zu verdanken sind. In einem Fall ist er Gast auf einem riesigen Landsitz, einer Hazienda, auf der er in ein Musikzimmer geführt wird, das so groß ist wie der Bösendorfer Musiksaal in Wien und ebenso phantastisch ausgeschmückt. Zwar hat Boltzmann noch die Schnauze voll von dem Oat-meal, das es zum Essen gab und das er als einen „unbeschreiblichen Kleister aus Hafermehl“ beschreibt, „mit dem man in Wien vielleicht die Gänse mästen könnte“, wie er meint, bevor er einschränkt, „ich glaube aber eher nicht, denn Wiener Gänse würden das kaum fressen.“ Aber trotz dieses Umstandes setzt er sich an den Flügel – einem Steinway von der allerhöchsten Preislage – und spielt eine Sonate von Schubert, wobei das Instrument durch seine Qualität seine Finger ganz ohne sein Zutun zu lenken schien.
       Boltzmann erzählt dann weiter: „Unter den Anwesenden war auch ein Professor der Musik in Milwaukee, eine martialisch männliche Gestalt, sicher ein vortrefflicher Bärenjäger; aber auch musikalisch gründlich gebildet. Er hatte … das Klavierspiel betrieben, man kann nicht sagen, gelernt. Er wußte, daß Beethoven neun Symphonien geschrieben hat und daß die neunte davon die letzte ist. Mir tat er unverdiente Ehre an, denn gelegentlich einer Debatte, ob Musik auch humoristisch sein könne, ersuchte er mich, das Scherzo aus der neunten vorzuspielen. Sollte ich sagen, ich kann es nicht, einem Professor aus Milwaukee gegenüber? Da ward auch ich humoristisch und sagte, ´Gerne, nur bäte ich ihn, die Pauke zu spielen, es nimmt sich besser, wenn sie ein zweiter hineinspielt´. Da wurde er mit seiner Bitte still“, und Boltzmann konnte weiter dem Wein zusprechen.  
 
Gewöhnlich denkt der Laie, daß Physiker rational agierende Forscher sind, die zu fremdeln beginnen, wenn irgendwelchen mythischen oder mystischen Themen angesprochen werden. Aber es gibt eine Ausnahme, und die hängt an der Zahl 137, die auch als kosmische Zahl bezeichnet wird, die eine Urzahl am Grund des Universums sein soll und über die amerikanische Historiker und Philosoph der Naturwissenschaften mit Namen Arthur I. Miller ein ganzes Buch geschrieben hat – „137“.
       Zunächst ganz nüchtern die physikalischen Tatsachen: Bei der Beobachtung der Spektrallinien, die das Licht erkennen und vermessen lassen, das von Atome ausgeht, war schon früh aufgefallen, daß einzelne dieser Linien aus mehreren Linien bestanden, was als Feinstruktur bezeichnet wurde. Wenn man die ursprünglichen Linien durch Anwendung eines Magnetfeldes breiter aufspaltet, bleibt diese inhärente Feinstruktur erhalten, was den Physiker Arnold Sommerfeld zu der schönen Bemerkung brachte, die Natur liefert die Feinstruktur der Linien „ohne unser Zutun.“
       Sommerfeld machte sich an die Erklärung und kam dem Phänomen auf die Spur, als er Einsteins (kosmische) Relativitätstheorie mit dem Atommodel von Niels Bohr verquickte. Der Abstand zwischen den verfeinert getrennten Spektrallinien ließ sich durch eine seltsame Zahl bestimmen, die Sommerfeld „Feinstrukturkonstante“ nannte, mit dem griechischen Buchstaben α (Alpha) bezeichnete und als Kombination von elementaren physikalischen Konstanten berechnen konnte. Wenn man geeignet die elektrische Elementarladung, die Lichtgeschwindigkeit und die Größe der von Max Planck eingeführten Quantensprünge (das Quantum der Wirkung) und die seit Urzeiten bekannte Kreiszahl π kombiniert, kann man eine Zahl ohne eine Dimension basteln, und diese Zahl wurde bald als 137 berühmt (wobei in manchen Darstellungen der Kehrwert 1/137 auftaucht). Zunächst meinten die Physiker nur, mit dieser Zahl seien das Kleinste (das Atom) und das Größte (der Kosmos) miteinander verwoben, aber bald zeigte sich, was selbst Einstein „eine Offenbarung“ nannte, daß die Feinstrukturkonstante nämlich „alle Existenz zusammenhielt“, wie Miller er ausdrückt. Wiche ihr Zahlenwert nur minimal von 137 ab, könnte sich kein Leben entwickelt haben, weil zuvor sämtliche Kohlenstoff- und Sauerstoffatome auf allen Sternen im Universum vernichtet worden wären.
       Spätestens hier bekam 137 die Aufmerksamkeit von Wolfgang Pauli, der meinte und hoffte, daß die Naturwissenschaften mit ihrer Hilfe „aus sich selbst heraus einen Gegenpol“ zu den Vertretern der alten Mystik hervorbringen werden, „der an die alten mystischen Elemente anknüpft.“ Entsprechend kursierte bald ein weiterer Witz über eine Begegnung zwischen dem irdischen Physiker und seinem himmlischen Herrn. Als sie sich treffen, erlaubt Gott Pauli, jede beliebige Frage zu stellen, und der Erdenmensch entscheidet für „Warum 137?“.
       In der Geschichte holt Gott eine Tafel und fängt schwungvoll mit seiner Erklärung an, bis Pauli ihn unterbricht und auf einen Fehler in der Ableitung hinweist. Der Herr im Himmel sieht tatsächlich ein, daß da etwas falsch ist, er gibt weitere Versuche auf, und so bleibt die gestellte Frage ohne Klärung.
       Natürlich ist 137 eine Primzahl, und offenbar läßt sie dank der Spektren „die Sphärenmusik des Atoms“ erklingen, wie Sommerfeld einmal ungewohnt enthusiastisch geschrieben hat. Max Born hat 1955 „die Erklärung dieser Zahl zur wichtigsten Aufgabe der Naturwissenschaften“ erklärt, die selbst Richard Feynman nicht bewältigen konnte, der dafür vom „größten Geheimnis der Physik“ sprach und die Feinstrukturkonstante als eine „magische Zahl“ charakterisierte, die in seiner Sicht „das menschliche Erkenntnisvermögen übersteigt.“
       Pauli wußte, daß 137 mit der hebräischen Kabbala verbunden ist, dem Buch der jüdischen Weisheitslehre. Im alten Hebräisch wurden Buchstaben mit Zahlen verbunden, und wer die Quersumme des Wortes „Kabbala“ berechnet, bekommt 137. Und so weiter, könnte man sagen und an Wortbeispielen rechnen, aber dann passierte etwas im Dezember 1958. Pauli brach in seinem Seminar zusammen, und er mußte ins Spital von Zürich gebracht werden, wo man Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostizierte. Als ihn am nächsten Tag sein Assistent besuchte, fragte ihn Pauli, ob er die Zimmernummer bemerkt habe. „Sie lautet 137!“, sagte Pauli, tief durchatmend. „Hier komme ich nicht mehr lebend heraus.“ Er ist dann auch in dem Zimmer gestorben.
       Die Faszination für die 137 bleibt ungebrochen, und wenn sie manche Physiker nur stolz auf den Nummernschildern ihre Autos durch die Gegend fahren. Eine geheimnisvolle Zahl, die Mikrokosmos mit dem Makrokosmos verbindet, die das Leben in beiden Sphären erlaubt und die man immer vor Augen oder im Rücken haben will.
 

© Ernst Peter Fischer