46 Jahre im zerbrochenen Reich der Mitte

Christine Maiwald – „Das schwierige schöne Leben“

von Frank Becker

46 Jahre im zerbrochenen
Reich der Mitte
 
Ein Leben wie ein Roman
 
Der bereits in seinen Kindheitsjahren weit gereiste Kaufmann Hermann W. Breuer (1884–1973), von seinen Freunden HWB genannt, ging nach Ableistung seiner Militärzeit mit 22 Jahren im Auftrag des Bremer Übersee-Handelshauses Melchers & Co. – Hermann Melchers war Breuers Taufpate - als Handelskorrespondent für zunächst nur vier Jahre, mit der Option auf eine Verlängerung um weitere drei Jahre, nach China. Daß daraus 46 aufregende Jahre werden würden, war anfangs sicher nicht vorgesehen.
 
       Das einstige „Reich der Mitte“ war zu diesem Zeitpunkt wirtschaftlich und militärisch von den Kolonialmächten England und Frankreich und etlichen anderen kolonialen Trittbrettfahrern abhängig, und auch Deutschland hatte sich ein Stück vom Kuchen gesichert. China hatte 1845 Hongkong und Kowloon an England abtreten müssen. Im selben Jahr besetzte Portugal Macao. Deutschland hatte 1898 die „Verpachtung“ von Kiautschou mit der Hauptstadt Tsingtao durch die Besetzung der Halbinsel Shandong erzwungen. 1900-1901 taten sich die Deutschen unrühmlich als Speerspitze der internationalen (22 Staaten) Niederwerfung des Boxer-Aufstandes und anschließende „Strafexpeditionen“ genannte Rache-Feldzüge hervor. Wahrlich kein guter Boden für anständige Geschäfte.
Breuer aber wurde von seiner Firma in die Handelsmetropole Shanghai am Huangpu beordert, in der sich die westlichen Mächte „Konzessionen“ gesichert hatten.
China und Shanghai wurden ihm eine zweite Heimat, dort fand er Freundschaften, die ein Leben lang hielten, dort traf er nach der Scheidung von seiner Jugendliebe Erna seine zweite Ehefrau Jennie. Er sah als Grundlage und Grundvoraussetzung seiner Arbeit dort ganz im Sinne seines Arbeitgebers eine liberale Haltung und durchaus humanistische und bei allem Geschäftssinn faire Bedingungen als Voraussetzung im Umgang mit den chinesischen Geschäftspartnern an. So empfand er sich bald als „Sohn des Reiches der Mitte“.
 
       Mut und Nächstenliebe bewies Breuer angesichts der zahlreichen Kriege und Umbrüche in China: 1912 stürzte Sun Yat-sen die Qing-Dynastie und rief die Republik aus, 1914 erobern die Japaner Tsingtao und bringen China unter ihre Kontrolle, Deutschland verschuldet den 1. Weltkrieg. Obwohl die Deutschen 1919 eigentlich des Landes verwiesen werden, darf HWB befristet bleiben und reaktiviert den deutschen Handel in und mit China. Er erlebt die Gründung der KPCh, die Rückgabe japanisch besetzter Gebiete an China, Übergriffe britischer Polizisten auf Chinesen in Shanghai, den Feldzug Tschiang Kai-scheks gegen die chinesischen Warlords, die erneuten Angriffe Japans auf China und die Besetzung der Mandschurei und Shanghais. Die Japaner gründen auf chinesischem Territorium den Marionetten-Staat Mandschukuo mit dem letzten Qing-Kaiser Aisin Gioro Puyi als Herrscher.
       Auch in Shanghai zeigen sich Auswüchse des deutschen Nationalsozialismus in Shanghai, und die blutige Besetzung Chinas durch Hitlers Achsenmacht Japan gehört wohl zu den dunkelsten Kapiteln der jüngeren chinesischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Erst als Deutschland und Japan im 1939 begonnenen 2. Weltkrieg niedergeworfen werden, findet China nach dem „langen Marsch“ Mao Tse-tungs unter großen Opfern der Zivilbevölkerung zu einer neuen politischen Einheit.
Während aller dieser Ereignisse führt HWB die Geschäfte so gut es geht weiter, unterstützt jüdische Flüchtlinge und versucht, die deutsche Gemeinde Shanghais wie auch verfolgte Chinesen zu schützen.
Als die Bedingungen in China nach der Machtübernahme 1949 durch die KPCh und Chinas Eingreifen in den Korea-Krieg für kapitalistische Ausländer schwieriger werden, zieht sich das Handelskontor Melchers 1950 ins damals sichere britische Hongkong zurück. HWB organisiert die Rückführung der deutschen Gemeinde Shanghais in die Heimat, die 1952 erfolgt. HWB wird, zurück in Deutschland, Vorsitzender des Ostasiatischen Vereins und bekommt für seine Verdienste das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Am 24. November 1973 stirbt er 89jährig in Bremen. Seine Frau Jennie überlebt ihn um 28 Jahre.
 
       Christine Maiwald hat zahllose Geschäftsunterlagen, Briefe, Zeitzeugenberichte, Urkunden und Fotografien in Deutschland und China in wahrer Detektivarbeit ausgewertet. Sie hat letzte Zeitzeugen aufgesucht oder telefonisch befragt, um die Lebensgeschichte des charismatischen Menschen HWB aufzeichnen zu können. Mit Empathie und Humor erzählt sie detailliert vom Alltag in China und der Gesellschaft der internationalen Geschäftsleute in Shanghai – und mit der angemessenen Seriosität die schweren Kapitel jener Zeit. Hilfreich für die Lektüre ist eine ausführliche, übersichtliche Chronologie von 18 Seiten, Anregung zur weiterführenden Lektüre geben 11 Seiten Literaturangaben, und als besonders aufschlußreich und wertvoll erweisen sich die 38 Seiten des Personenverzeichnisses mit kurzen, jedoch prägnanten Biographien.
        Mit „Das schwierige schöne Leben“ hat Christine Maiwald nicht nur die unerhört sorgfältig recherchierte, ganz außergewöhnliche Biographie eines Protagonisten der deutsch-chinesischen Freundschaft vorgelegt, sondern, was beinahe noch wichtiger erscheint, ein differenziertes, aufschlußreiches Bild der wechselvollen chinesischen Geschichte der Neuzeit. Für dieses herausragende Buch, das neben seinem einzigartigen Informationsgehalt auch enormen Unterhaltungswert besitzt, gebührt der Autorin unser Prädikat, der Musenkuß* (mit Sternchen). Es wird auch unser (drittes) Buch des Jahres.

Christine Maiwald ist promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie arbeitete als Theaterdramaturgin in Kiel und Hannover, war Museumsreferentin in der Hamburger Kulturbehörde und übernahm bis 2010 Managementaufgaben im Hamburger Museumsbereich. Hermann Breuer ist ihr »China-Onkel«.
 
Christine Maiwald – „Das schwierige schöne Leben“
Ein deutscher Kaufmann in Shanghai 1906 bis 1952
© 2021 Dölling und Galitz Verlag, 670 Seiten, gebunden mit Fadenheftung, 16,5 x 24 cm, Lesebändchen, 75 Abbildungen  -  ISBN 13: 978-3-86218-147-6
29,90 €
 
Weitere Informationen: www.dugverlag.de
 
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