Das Leben ein Traum

Dichterstimmen aus sieben Jahrhunderten

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Das Leben ein Traum

Dichterstimmen
aus sieben Jahrhunderten
 
Von Heinz Rölleke
 

Der Traum gibt uns ein Stück Leben, gibt alles, was zum Leben gehört;
den vollen Glauben an die Wirklichkeit der Ereignisse, ursächlichen
Zusammenhang, Empfindungen, Gedanken - alles.
(Eduard von Keyserling, Die Kunst des
Traumes und der Traum der Kunst)
 
Es gab und gibt viele Menschen, die am Silvestertag auf das zu Ende gehende Jahr zurückblicken; manche ältere Semester werfen an diesem Tag häufig eine Rückschau  auf ihre vergangenen Lebensjahre. Schon in der Antike gibt es Andeutungen eines Rätsels, ob die abgelebte Zeit als Realität oder als Traum aufzufassen ist.
 
Walther von der Vogelweide hat gegen Ende seines Lebens (um 1225) diese Frage ganz ausdrücklich gestellt:

 
            Owê war sint verswunden                 Ach, wohin sind entschwunden
                        alliu mîne jâr                                      all meine Jahre?
            ist mir mîn leben getroumet,  Habe ich mein Leben nur geträumt
                        oder ist ez wâr?                                             oder ist es Wirklichkeit?
            Daz ich je wânde ez wære,                War alles, das ich immer glaubte,
                        was daz alles iht?                               War das denn alles etwas?
            Dar nâch hân ich geslâfen                  Danach habe ich geschlafen
                        und enweiz es niht.                            und weiß es überhaupt nicht.
            […]                                                                […]
            Als ich gedenk an manegen           Wenn ich an so viele
                        wünneclîchen tac,                              glückliche Tage denke,
            die mir sint enfallen                           die mir vergangen sind
                        als in daz mer ein slac:                       wie ein Schlag ins Wasser:
            Iemer mêre: owê!                               Immerdar: o weh!
 
Die scheinbar ausweglose Klage über den Lauf der Welt und über den Verlauf des eigenen Lebens wird indirekt aufgehellt durch die Form der dreistrophigen Elegie (die man als „eines der größten Wunder unseres deutschen Mittelalters“ gewertet hat): Es sind jeweils 33 Halbzeilen, insgesamt also 99, das heißt 3 mal 33 Verse. Die Zahlensymbolik, die man im Mittelalter besonders pflegte, schätzte und sehr ernst nahm, weist eindeutig auf den Erlösertod Christi am Kreuz, der nach altchristlicher Tradition als 33-jähriger starb.  Multipliziert mit der Heiligen Zahl Drei ergibt sich stimmig der Gesamtumfang der Dichtung.
 
Getragen von der symbolischen Gegenwärtigkeit dieser Heilstat Gottes, gewinnt das Lyrische Ich die Kraft und die Zuversicht, den Refrain des Gedichts am Ende zu ändern: Aus dem Aufschrei „iemer mêre owê!“ wird eine hoffnungsvolle, beruhigte, mit Willenskraft herbeigeführte Wendung (in den letzten acht Schlußversen begegnet vier Mal „wolte“):
                         
                         so wolte ich denne singen wol,
                                   und niemer mêr owê
                         niemer mêr owê.
 
Damit ist die Eingangsfrage des Gedichts freilich nicht beantwortet, und sie hat  - durch Walther angeregt -  noch viele mittelhochdeutsche Dichter umgetrieben. Sogar in einem Schwank („Socibilis“) findet sich die Frage:
 
                        „got, wie ist diesen dingen?
                        hat es mir getraumt?“
                        vil schier er da raumt:
                        „oder ist es war fürwar?“
 
William Shakespeare spricht das Problem in berühmt gewordenen Versen zwei Mal (um 1600 und um 1611) an. Der entscheidungsschwache Hamlet schwankt, ob er den Mord an seinem Vater rächen oder ob er die Qual seines eigenen Lebens durch einen Suizid enden soll; daraus erwachsen ihm grundsätzliche, existenzielle Fragen:
 
                        To be or, not to be: that is the question.
 
Die Frage nach der Dichotomie zwischen Traum und Realität verschiebt er dabei auf ein Jenseits: Die Menschen scheuen den Selbstmord, weil sie schreckliche Träume in ihrem Todesschlaf (schlimmere als die Schmerzen, die jedes Leben bringt) fürchten:
 
                        […] To die, to sleep;
                        To sleep: perchance to dream: ay, there's the rub:
                        For in that sleep of death what dreams may come.
 
                        ([...]Zu sterben, zu schlafen;
                        Vielleicht auch zu träumen. Ja, das ist der Haken:
                        Was in diesem Todesschlaf für Träume kommen mögen.)
 
Demnach wäre das Leben Realität; die im Jenseits existierenden Albträume halten offenbar verfehlte Lebensabschnitte des Toten ewig wach.
 
In seinem letzten Drama „Der Sturm“ findet sich dann eine bündige Aussage:
 
                        We are such stuff as dreams are made on
                        And our little life
                        Is rounded with a sleep.
 
                        (Wir sind aus solchem Zeug, wie dem zu Träumen,
                        Und unser kleines Leben ist umgeben von einem Schlaf.)
 
Hofmannsthal adaptiert 1894 sozusagen zustimmend die berühmten Verse im Eingang der dritten seiner „Terzinen über Vergänglichkeit“.
Der Mensch erwacht bei seiner Geburt aus einem Schlaf und geht mit seinem Tod wieder in den Schlaf ein. Das reale Leben sind die Träume zwischen den unendlichen praenatalen und postmortalen Schlafphasen.
 
In Calderons Drama „La vida es un sueño“ (Das Leben ist ein Traum;1636) findet sich zu unsrem Thema die radikalste Aussage:
 
            Was ist das Leben? 
            Hohler Schaum,
            Ein Gedicht, ein Schatten kaum!
            […]
            Denn ein Traum ist alles Leben
            Und die Träume selbst ein Traum.
 
Die scheinbar reale irdische Existenz ist gegenüber der Ewigkeit schlichtweg nichtig und wird nur in Träumen spürbar.
 
Grillparzers 1834 uraufgeführtes Drama „Der Traum ein Leben“ variiert den Calderon'schen Titel. Die Dichtung wurde nicht zuletzt durch die Erwartungen, die dieses berühmte Zitat weckte, zu seinem erfolgreichsten Bühnenwerk. Man war im 19. Jahrhundert für das Thema besonders sensibilisiert.
 
Zuvor hatte Herder, der philosophische Theologe, die Frage in der Calderon'schen Tradition kurz und bündig in der Eingangsstrophe zum Gedicht „Amor und Psyche auf einem Grabmal“ zu beantworten gesucht:
 
                        Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
                        Auf Erden hier.
                        Wie Schatten auf den Wogen schweben
                        Und schwinden wir.
                        Und messen unsre trägen Tritte
                        Nach Raum und Zeit;
                        Und sind (und wissens nicht) in Mitte
                        Der Ewigkeit.
 
Der Mensch denkt, sein Lebensweg (seine tatsächlich nur „trägen Tritte“) seien die reale Existenz, die man durch Raum und Zeit fixieren müsse. Das ist offenbar ein fundamentaler Irrtum, den auch  Herders Rückgriff auf barocke Gedanken andeutet. Durch die Betonung des „hier“ im zweiten Vers wird die Nichtigkeit der irdischen Existenz gegenüber der Ewigkeit wie im „Vanitas“-Gedicht des Andreas Gryphius (1658) angesprochen: Eitle Nichtigkeiten beherrschen die Existenz „auf Erden“ - „noch will was ewig ist, kein einig Mensch bedenken.“ Mit einem ähnlichen Vokabular wie Herder („Traum“, „Schatten“) hatte sich zuvor schon der Königsberger Dichter Simon Dach in seinem 1641 entstandenen lyrischen Nachruf „Nach Psalm 90“(„Traum“, „Schatten“) ausgedrückt:
 
                        Wir fahren hin gleich wie im Traum, 
                        Vergehn wie Schatten und wie Schaum,
                        Sind eine Wasser-Blase.
                        Der Zeit Gewalt eilt mit uns fort,
                        Wie mit den Wolken sonst der Nord,
                        Die Herbst-Luft mit dem Grase.
 
Wie der winterliche Nordsturm die Wolken vor sich herjagt und diese wie der Herbstwind das Gras verschwinden läßt, so ist auch die menschliche Existenz (denn „alles Fleisch, es ist wie Gras“; Jes. 40.6) schnell vergänglich und ist einem flüchtigen Traum gleich – oder gar nur ein solcher? Auch in diesen Gedichten bleibt die Frage unbeantwortet.
 
Vorsichtig erwägt Eichendorff die wohl immer wieder vergeblich gestellte Frage, ob das Leben nur ein Traum ist, indem er reale Gedanken eines Wachenden als gleichberechtigt, wenn nicht gar identisch mit Traumbildern eines Schlafenden wertet:
 
                                   Die Nachtblume
 
                        Wünsche, wie die Wolken sind,
                        Schiffen durch die stillen Räume,
                        Wer erkennt im lauen Wind,
                        Obs Gedanken oder Träume?
 
Mit einem Fragezeichen wird auch jeder Versuch enden müssen, Realität und Traum genau zu umreißen, gegeneinander abzuwägen oder als identisch anzusehen.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021