Vergewaltigung, Mißbrauch,
Erfindung der Pornographie
„La Fenice“ von Lea Singer
Angela del Moro lebte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Venedig, und drei Dinge waren ihr wichtig: 1. Würde oder zumindest Selbstachtung. 2. Selbständig Geld zu verdienen, also ökonomische Unabhängigkeit. 3. Blond zu werden, warum das? Als blonde Frau mache sie den Männern weniger Angst, aber Bleichmittel waren damals teuer. Angela mit zu kurzem Hals und etwas zu kurzen Beinen, mit kräftigen Oberarmen und zupackenden Händen konnte Fische schuppen, putzen und Hühner rupfen, alles was um 1530 im Haushalt so anfiel. Ihre prallen, festen Brüste konnte nur eine kräftige Männerhand bedecken. „Trotzdem galt ich als schön“ vor allem wegen ihres offenen Gesichtes und ihrer Augen, die im Venedig der Renaissance als Geschlechtsorgane angesehen wurden. Sie hatte, damit beginnt dieser Roman, zum ersten Mal einen Mann weggeschickt, einen attraktiven und vornehmen, auf den sie sich eigentlich hätte einlassen sollen. Damit hatte sie ihr Lebensziel Nr. 1 zwar verteidigt, aber dieser Mann stammte aus einer der berühmtesten Familien Venedigs und saß „in einer Marmorbadewanne voll Reichtum, Ruhm und Einfluß“. Eines Tages rächte er sich an Angela, 23 Jahre alt, die selbst als Kind der Gewalt durch Vergewaltigung ihrer Mutter geboren worden war.
Angela erzählt über sich, daß sie als Kind beim Spielen auf der Straße eine arme, alte Frau kennengelernt hat, die in ihrem heruntergekommenen Haus zahllose Bücher an den Wänden stehen hatte. Fedele hieß sie und fing mit Angela Gespräche an z.B. über Venedig, über die mutigen venezianischen Männer, die Reliquien geraubt und, unter Schweinfleisch verborgen, auf Anordnung der Regierung in die Stadt gebracht haben. Von Fedele hatte Angela mit acht Jahren Lesen gelernt und wußte bald, was Venedig ausmachte: Einkommensteuer, offizielle Denunziation, schnellste Galeeren, mundgeblasenes Glas, Schuhe mit hohen Absätzen, auf den frau eigentlich nicht gehen konnte, Patentschutz, Brillenproduktion. Und vieles andere mehr. San Tòdaro, der Schutzheilige der Stadt und ihrer Truppen hat die ökonomische Basis der Stadt gesichert, indem mit seiner Hilfe entlaufene Sklaven zurückgeholt wurden. Mit Fedele besuchte Angela die Druckereien der Stadt (ca. 150!), in denen zu dieser Zeit dreimal so viele Bücher und Schmähschriften gedruckt wurden wie im übrigen Italien, obwohl es dort kaum Schriftsteller gab, wohl aber berühmte Maler. Und Fedele erzählte auch ihre Geschichte, daß sie schon als junges Mädchen Latein und Altgriechisch fließend gesprochen habe, und mit 18 Jahren als Madonna von einem gewissen Bellini gemalt worden sei. Als Frau von Geist wurde sie früher in Venedig geschätzt und vereinnahmt.
Von Fedele erfuhr Angela auch viel über Aretino, jenem scharfzüngigen, respektlosen rebellischen Satiriker, dessen „Pasquinaten“ (Spottverse) in Rom an die bekannte Statue des Pasquino geheftet wurden (nahe der Piazza Navona) und damals den Volkszorn öffentlich machten. Sozusagen also als Vorläufer von Facebook und Twitter wird er heute nur noch von Bildungstouristen besucht. Bei Aretino war die Wahrheit nackt und seine wollüstigen, erotischen Sonette wurden dank des Buchdrucks ebenso wie die obszönen „Stellungen“ des Marcantonio Raimondi nach den Zeichnungen Giulio Romanos endlich für alle, nicht nur für die Menschen mit Geld, verfügbar. Der Autor der „Hurengespräche“ (Aretino) schätzte Angela sehr und sie lernte viel von dem spottlustigen Intellektuellen, schlief mit ihm, wollte aber nicht so dick werden wie er.
Eines Tages verabredete sie sich mit einem seiner Freunde, dem Lorenzo Venier, den sie einst verschmäht hatte. Um es kurz zu machen, die Affäre endet mit einer grausamen Gruppenvergewaltigung, über die der verbrecherische Auftraggeber und frühe Pornograph ein „satirisches Gedicht“ veröffentlicht hat („Il trentuno della Zaffetta“ von 1531). Dieser gewaltpornografische Text wurde 1929 erneut publiziert und diente Lea Singer als Vorlage für die Geschichte der historischen Angela del Moro, die das an ihr verübte Verbrechen überlebt, ihr Leben wieder in den Griff bekommen und später als dann fürstliche Kurtisane frei und selbstbestimmt gelebt hat. Das erinnert an den Phönix aus der Asche, der im Italienischen zu Recht wie man hier liest weiblichen Geschlechtes ist und dem Roman seinen Titel gegeben hat. Noch heute jedenfalls schaut Angela, das Lieblingsmodell von Tizian (1488-1576), als weltberühmte nackte Venus von Urbino (1538) in den Uffizien auf ihrem Bette liegend, zahllose Besucher offen an.
Der Roman bietet mit einer starken, bissigen Sprache, unpathetisch, schwungvoll, geschrieben reines Lesevergnügen und ein lebhaftes Sittenbild des 16. Jahrhunderts in Venedig, wo Gruppenvergewaltigungen keine Seltenheit waren. In ihrem ausführlichen Kommentar zur Historie der Geschichte in ihrem Roman wird ergänzend sehr deutlich, was den Frauen schon in der Renaissance zugefügt, zugemutet wurde und wie umfangreich und subtil die Autorin, promoviert in Kunstgeschichte, für ihren Roman recherchiert hat. Parallelen zu heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen mit weit verbreitetem sexuellem Mißbrauch, Gewalt gegen Frauen, usw. liegen nahe. Das Bundeskriminalamt gab für 2020 rund 700 Gruppenvergewaltigungen in Deutschland an.
Lea Singer – „La Fenice“
Roman
© 2020 Kampa Verlag, 304 Seiten, Leinen - ISBN 978 3 311 10027 0
23,- €
(auch als E-Buch erhältlich)
Weitere Informationen: www.kampaverlag.ch/lea-singer-la-fenice/
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