Unter flinken pianistischen Fingern

Claire Huangci – „Johann Sebastian Bach (1685-1750 - Keyboard Toccaten BWV 910-916"

von Johannes Vesper

Claire Huangci (Klavier)

mit den
Toccaten von Johann Sebastian Bach
 
Die Pianistin zitiert Bach mit dem Satz: „Alles, was man tun muß, ist, die richtige Taste zum richtigen Zeitpunkt zu treffen“. Das klingt erstmal einfach, aber als Pianistin will sie darüber hinaus „den richtigen Raum zwischen den Noten finden“ und das Herz berühren. Das ist schon viel schwieriger. Johann Sebastian Bach (1685-1750) hat viel für die Orgel komponiert aber auch sehr viel improvisiert. Leider sind seine Improvisationen nicht erhalten, denn bekanntlich gab es zu seiner Zeit keine Möglichkeiten, seine spontanen musikalischen Äußerungen festzuhalten; hört man aber die Toccaten in ihrer freien musikalischen Form, könnte man glauben, es handle sich um aufgeschriebene Improvisationen. Und Claire Huangci entdeckte diesen Toccaten - sie gelten als Frühwerke - den skurrilen, phantasierenden und humorvollen Bach.
 
Der war ja bekanntlich als 15jähriger die 320 km von Ohrdruf zu Fuß nach Lüneburg gewandert, um dort sein Cembalo- und Orgelspiel vervollkommnen. Beim Probespiel in Arnstadt 1703 habe der 18jährige alle seine Mitbewerber übertroffen und „stand den virtuosen Meistern wie Reincken, Buxtehude, Pachelbel und Böhm nicht nach“, hieß es. Die berühmte d-Moll Toccata (BWV 565), deren Bekanntheitsgrad der der 5. Sinfonie Beethovens entspricht, hat Ferruccio Busoni (1866-1924) für Klavier bearbeitet. Zwar verliert bei dieser Bearbeitung das Stück an Wucht, da sich trotz Oktavierung auf dem Klavier der bekannte, große Orgelklang, das attacca des Beginns, kaum einstellen kann. Damit wurden „meine Finger in Trab gehalten“ bekennt die Pianistin im Beiheft. Unter differenzierter Agogik und klugem Pedaleinsatz aber lebt die Toccata und läßt den stürmischen jungen Bach erahnen. Die Komplexität des 2. Satzes mit differenziertestem Wechsel zwischen Staccato und Bindung, mit stürmische Bassfiguren, busonischen Umformungen und auch Additionen, durchsichtig und klar gespielt, macht auf den originalen Bach neugierig. Mit dem langsamen Satz der g-Moll Toccata (BWV 915) entrückt die Pianistin Zuhörer in himmlische Sphären bevor die straffe, komplexe Fuge diese nur noch staunen läßt. Der Phantasie und dem Einfallsreichtum des Komponisten scheinen keine Grenzen gesetzt. Völlig unerklärlich, daß die großartige Musik Johann Sebastian Bachs nach seinem Tode erstmal vergessen wurde, bis Mendelssohn sie 1829 mit der Matthäuspassion wiederentdeckte. Brillant und temperamentvoll, präsent, höchst differenziert, lebendig, mit Verve und Empathie packt mit dieser Aufnahme die Pianistin den jungen Bach. Man weiß gar nicht zu sagen, was einem am bestem gefällt: Der Gegensatz zwischen dem fulminanten Beginn und dem gesanglichen 2. Satz der G-Dur Toccata (BWV 916), das virtuose Presto der Toccata in d-moll (BWV 913) oder alle anderen Stücke. Unter flinken pianistischen Fingern erscheinen abwechslungsreiche und leichte Fugen, überhaupt die musikalische Welt spielerisch, munter, und jugendlich heiter, ganz im Gegenteil zu bedeutungsvoll schwerem Kontrapunkt des gottesfürchtigen, späten Bachs. Ein besonderes Hör-Vergnügen.
 
Die Aufnahme entstand als Ausweg bei wegen Corona erheblich eingeschränkter Konzerttätigkeit und wurde ermöglicht durch Unterstützung des Programms „Neustart Kultur“, mit welchem die Bundesregierung kulturelle Initiativen fördert. Warum im Begleitheft von „Keyboard Toccaten“ die Rede ist, statt von „Toccaten für Klavier“ erschließt sich nicht, versteht man darunter doch eigentlich nur eine Tastatur oder ein elektrophones Tasteninstrument, was eben kein Klavier ist (Wiki). Im Begleitheft bekennt die Pianistin, was sie an diesen Klavierstücken Bachs fasziniert. Ihr persönliches Bekenntnis wird ergänzt durch den lesenswerten Beitrag Kit Armstrongs zu den Toccaten Bachs. Für klavierspielende Zuhörer wird es interessant sein, daß die Pianistin in der Henle Library APP ihre Fingersätze zu den Toccaten veröffentlicht hat.
 
Claire Huangci – „Johann Sebastian Bach (1685-1750 - Keyboard Toccaten BWV 910-916, Toccata and Fugue in D-Minor BWV 565 for Organ transcribed by Ferruccio Busoni for Piano“
© 2021 Berlin Classics/Edel Germany GmbH (CD)
Claire Huangci (Klavier)

Stücke: Toccata und Fuge in d-Moll (BWV 565, arr. Ferruccio Busoni (1866-1924): 1. Toccata, 2 Fuge; Toccata in g-Moll (BWV 915): 3. Adagio, 4. Allegro, 5 Adagio, 6. Fuga; Toccata in e-Moll (BWV 914): 7. Un poco allegro, 8. Adagio, 9. Fuga. Allegro; Toccata in c-Moll (BWV 911): 10 Adagio, 11. Fuga; Toccata in G-Dur (BWV 916): 12. Introduktion, 13. Adagio, 14 Fuga. Allegro e presto; Toccata in d-Moll (BWV 913): 15. Presto, 16. Thema-Presto, 17. Allegro; Toccata in fis-Moll ( BWV 910): 18. Introduktion, 19.Adagio, 20 Presto e staccato; Toccata in D-Dur (BWV 912): 21 Introduktion, 22. Allegro, 23. Adagio, 24. Presto-Fuga.