„Tanz am Abgrund“

Das Sinfonieorchester Wuppertal in seinem zweiten Saisonkonzert mit der Solistin Noa Wildschut

von Johannes Vesper

Noa Wildschut - Foto © Marco Borggreve

„Tanz am Abgrund“
 
Das Sinfonieorchester Wuppertal in seinem zweiten
Saisonkonzert mit der Solistin Noa Wildschut
 
Die Zukunft ist jetzt“ hieß es beim 1. Sinfoniekonzert dieser 159. Saison des Sinfonieorchesters Wuppertal unter seinem GMD Patrick Hahn. Bedrohlicher erscheint das Motto des 2. Sinfoniekonzertes (am 24./25.10.2021): „Tanz am Abgrund“, welches mit dem „Tanz in der Dorfschenke“ von Franz Liszt (1811-1886) eröffnet wurde. Immerhin wird das Publikum hier von der teuflischen Geige Mephistos unterhalten, während Dr. Faust die Tochter des Kneipenwirts im Hinterzimmer verführt. Die Tondichtung entstand 1860, da war Liszt Leiter des Hoforchesters in Weimar und offensichtlich noch nicht zum Abbé geweiht. Ursprünglich für Klavier komponiert, wurde das Stück außerordentlich populär. Es wurde komponiert nach Episoden aus dem „Faust“-Epos Nikolaus Lenaus von 1836. Zu Beginn werden geschwinde Triolenrepetitionen in affenartigem Tempo akkordisch über einander geschichtet, bevor es zu einem ersten Walzerthema kommt. Es wird ruhiger, die Celli werben zu Pizzicati der Kontrabässe und die Violine steigt sehnsüchtig in die Höhe. Aber der Wirtshauslärm stört die Situation immer wieder, bis zuletzt doch die Celli singen, die innige Flöte (Catarina Laske) die nächtliche Nachtigall imitiert. Nach lustvollen Harfenarpeggien endet mit kurzem Schluß diese musikalische Verführung. Der literarischen Programmmusik wurde das Orchester mit Herz und Temperament voll gerecht und das Publikum war erstmalig begeistert an diesem Abend.
 
Verwunderlich, das Sergej Prokofjew (1891-1953) 1935 aus der der Emigration, aus der freien, ja revolutionären Musik- und Kunstszene Paris freiwillig, ohne Scheu vor Gleichschaltung durch sozialistischen Realismus, in das stalinistische Rußland zurückkehrte. Aus dieser Zeit stammt sein 2. Violinkonzert in g-Moll, welches in Madrid uraufgeführt wurde. Die 20jährige Noa Wildschut spielt eine Geige von Giovanni Battista Guadagnini aus dem Jahr 1750 und eröffnete den 1. Satz mit einem zu Herzen gehenden Solo. Das Thema wird zunächst von Celli und Kontrabässen, später im gesamten Orchester bearbeitet. So entwickeltet sich in mit aufmerksamem Zusammenspiel mit Blickkontakten zwischen Solistin und dem Orchester der erste Satz. Im 2. Satz (Andante assai) schwebte die Solovioline zunächst seelenvoll-lyrisch über einem Pizzicato der Streicher und blieb bei ausgeprägter Körpersprache der Geigerin auch bei ihren schnelleren oder Pizzicato-Passagen über vollerem Orchester stets präsent. Mit schwungvollem, rhythmisch prägnantem, doppelgriffigem Thema im flotten 3/4-Takt beginnt das „Allegro, ben marcato“ des 3. Satzes. Immer wieder erscheint dieses tänzerische Thema, unter souveränem Dirigat leicht agogisch aufgeladen. In Stalins Russland wie vom heutigen Konzertpublikum wurde und wird diese traditionelle, eher einfache Musik ohne jede Verbindung zur Zwölftonmusik oder anderer modernerer Musikströmungen sehr geschätzt und gehört heute zum Standardrepertoire der Geigenvirtuosen. Durchsichtig und durchhörig trotz großen Orchesters bot die Geigerin dieses herrliche, vom jugendlichen Temperament durchpulste Konzert brillant und in makelloser Technik. Das Publikum war zum zweiten Mal an diesem Abend begeistert. Die junge Virtuosin in extravaganter Konzertkleidung ergriff das Mikrofon, zeigte sich fast gerührt vom großen Erfolg und davon, daß nach der Coronazwangspause so etwas wieder möglich geworden ist. Als Zugabe spielte sie die Sarabande aus der 1. Solopartita Johann Sebastian Bachs, mit deren doppelgriffiger Mehrstimmigkeit und differenziertester Dynamik bis hin zum alles übersteigendem, fast versterbendem Pianissimo sie ihre ganze Musikalität zeigte. Lange Pause nach dem Ende, bevor erneut großer Applaus ausbrach.
Die Pause verbrachte nicht das gesamte Publikum mit Maske im Foyer, einige fühlten sich trotz 2G-Hygieneregel mit Maske im Saal sicherer.
 

Noa Wildschut - Foto © Marco Borggreve

Im 2. Teil gab es dann die 7. Sinfonie Ludwig van Beethovens (1770-1827) mit den markanten Orchesterschlägen im Poco sostenuto des Beginns, zunächst durch Holzbläser verbunden, später auch durch aufsteigende punktierte Tonfolgen der Streicher. Nach Verzögerung braust der Satz endlich im Presto los. Unter dem eher sparsamen Dirigat Hahns mit Armen und Händen und wechselnder Körperspannung entwickelt sich Beethovenscher „Drive“. Noten gab es für den Dirigenten nicht. Ohne Blatt dirigierte er nach der Lisztschen Tondichtung auch die Siebte, modulierte streichelnd mit der linken Hand die Streicher bzw. deren Klang, pointierte mit der bewaffneten Rechten punktgenau Einsätze auch bis in die hinteren Reihen des großen Orchesters, z.B. die Kontrabässe immer wieder zu kurzem Fauchen anstachelnd. Oft gab er bei minimalistischen Bewegungen vor allem den Orchestersolisten den notwendigen Raum zur eigenen Gestaltung. Dann ruckten die Schultern mächtig nach unten und die dramatische Entwicklung ging wieder kontrolliert voran. Die Uraufführung im Dezember 1813 hatte Beethoven selbst dirigiert, obwohl er durch seine Schwerhörigkeit schon erheblich beeinträchtigt war, als er schrieb: „Baumwolle in den Ohren … benimmt meinem Gehör das unangenehm Rauschende.“ Trotz der zunehmenden Taubheit, hatte er doch schon 1812 bei einem Klavierabend „die Hälfte der Saiten vom Piano abgehauen, stand er zu dieser Zeit auf der Höhe seines Erfolgs und Ruhms, hat aber nach der Uraufführung das Dirigieren aufgegeben. Kein Zufall, daß er in dieser Sinfonie zum ersten Mal ein dreifaches Fortissimo vorgeschrieben hat. Durch die Schwerhörigkeit war die Verständigung mit den Orchestermusikern während der Proben und auch der Aufführung also erheblich erschwert. Solche Probleme gab es bei der Aufführung jetzt in Wuppertal überhaupt nicht. Hier musizierten alle wie aus einem Guß. Der berühmte Trauermarsch des 2. Satzes wurde, wie vorgeschrieben, im Allegretto, also nicht zu langsam, „ein wenig schnell“, genommen. So schritt der Satz mit singender Melodik, beglückenden dynamischen Registerwechseln und differenziertestem Pianissimo voran. Das Scherzo des 3. Satzes wirbelte höchst lebhaft, virtuos, schnell vorüber und endete mit den fünf Orchesterschlägen, bei denen Robert Schumann „den Komponisten ordentlich die Feder wegwerfen“ sah. Jetzt aber schloß sich fast ohne Pause der letzte Satz an: ein Feuer von Rhythmen und Motiven. Romain Rolland sprach von einer Rhythmusorgie (immer wieder punktierte Achtel und Viertel). Ob die Sinfonie in ihrem Ausdruck der Freude und des Glücks kurz nach der Völkerschlacht von Leipzig auch politisch zu verstehen ist? Wer weiß. Beethoven dankte den Mitwirkenden damals immerhin: „Uns alle erfüllt nichts als das reine Gefühl der Vaterlandsliebe und des freudigen Opfers unserer Kräfte für diejenigen, die uns so viel geopfert haben.“

In der Wuppertaler Historischen Stadthalle war das Publikum jedenfalls nach fulminantem Schluß nicht auf den Sitzen zu halten. Bravi, Fußtrappeln, Beifallspfiffe, stehende Ovationen und Blumen für den Dirigenten beendeten das 2. Abonnementskonzert - womit hoffentlich auch die coronabedingten Einschränkungen des Konzertlebens enden.