2000 Jahre „Sator Arepo“

Ein uralter Zauberspruch: Verbreitung und Bedeutung

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
2000 Jahre „Sator Arepo“
 
Ein uralter Zauberspruch: Verbreitung und Bedeutung
 
Von Heinz Rölleke
 
Nach der Vorstellung des 2. Merseburger Zauberspruchs in den Musenblättern vom 1.10.2021 ergaben sich zahlreiche Anfragen nach weiteren ähnlichen antiken und mittelalterlichen Zeugnissen früherer Glaubensvorstellungen.
 
                                                           S A T O R
                                                           A R E P O
                                                           T E N E T
                                                           O P E R A
                                                           R O T A S
 
Der berühmteste zauberkräftige Spruch ist wohl dieses seit der römischen Antike in zahllosen Zeugnissen belegte SATOR AREPO-Quadrat, das sowohl in lateinischen wie in griechischen und koptischen Schriftzeichen mannigfach bezeugt ist. Das bis heute ungelöste Geheimnis seiner Bedeutung und seiner Botschaft dürfte zur Jahrhunderte langen Popularität und Verwendung des Spruches beigetragen haben.
 
Erst aus jüngeren Zeiten stammen Aufzeichnungen des Buchstabenquadrats auf Papyri, Papier (unter anderen bei deutschen Einwanderern in Pennsylvania um 1790) oder gar in Buchform (etwa in einem 1638 entstandenen Buch aus Süddeutschland). Ungewöhnlich viele frühe Funde stammen aus dem ersten bis dritten nachchristlichen Jahrhundert, die ältesten auf einer Säule und auf einer Hauswand in Pompeji (um 55 nach Christus), sodann aus dem ganzen römischen Reich, zum Beispiel aus Syrien, Pannonien (Ungarn), Portugal sowie aus Nordost- und Südengland.
 
Die Funktion des Zauberspruchs scheint nach Ausweis seiner Überlieferungsträger einigermaßen eindeutig: Er findet sich am häufigsten auf Haushaltsgeräten (Amphoren), an Häuserfronten (bevorzugt an Türen oder in Türnähe angebracht) sowie etwas später in Sakralbauten. Er fungierte zunächst entweder als geheimnisvolles atropäisches Zeichen gegen Dämonen und böse Geister, die vor der - offenbar selbst von ihnen unverstandenen - Formel zurückweichen (auch gegen Krankheitserreger und Feuergefahr wurde er eingesetzt). Es scheint so, als läge diesem weiten Feld der zauberkräftigen Gefahrenabwehr gar kein Versuch zugrunde, dem Wortlaut des fünfzeiligen Textes einen Sinn und damit eine Chance für ein Verständnis zu geben. Die geradezu wunderbare Buchstabenanordnung in Form eines aus 25 Schriftzeichen gebildeten magischen Quadrats dürfte den Benutzern als Garantie für seine Wirkung genügt haben: Man kann das Palindrom horizontal wie vertikal, vorwärts wie rückwärts lesen.
 
Als sich die junge christliche Kirche diese wohl fest und zäh seit der vorchristlichen Zeit geglaubte und allenthalben gebrauchte Zauberformel zunutze machen wollte, bemühte man die allmählich üblicher werdenden Umweihungen, in denen heidnische Formen mit christlichem Geist gefüllt wurden. Das sollte hier eine entsprechende Teilübersetzung und deren Interpretation bewerkstelligen. Damit gehörte der umfunktionierte Spruch als Kryptogramm zu den Bekenntnissen der Urkirche. Man hielt sich vornehmlich an die Bedeutung des vierfach lesbaren Eingangsworts „Sator“, nämlich „Sämann“ und auch „Schöpfer“. Dieses konnte man unschwer an berühmte Gleichnisse aus dem Neuen Testament wie auch an den Beginn der alttestamentarischen Genesis anschließen: Der Schöpfergott und der Erlöser Jesus Christus begegnen hier in der Figur des Sator. Die weitgehend unklare Bedeutung der vier folgenden Worte legte man in diesem Sinn aus: Der Schöpfer hat die Welt ausgesät und hält die Räder des Weltalls in seinen Händen. Populärer wurde der Bezug des ersten Wortes auf den Sämann in einigen Gleichnissen im Neuen Testament: Dieser ist Christus, der das Wort Gottes wie Samen ausstreuend verkündet. Bei diesen Übersetzungs- und Deutungsversuchen des Spruches stützte man sich besonders auf vier Verse der Bibel:
 
            „Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das         
            sich besame [...] und habe seinen eigenen Samen bei sich selbst auf          
            Erden“ (1. Mose 1.11).
           
            „Siehe, es ging ein Sämann aus, [Weizen] zu säen […]. Etliches fiel          
            auf ein gutes Land und trug Frucht […]. Das aber in das gute Land         
            gesät ist, das ist, wenn jemand das Wort [der Verkündigung] hört und     
            versteht es und dann auch Frucht bringt“ (Matth. 13.3 und 23).
 
            „Das Himmelreich ist gleich einem Menschen, der guten Samen auf         
            seinen Acker säte. […] Da nun das Kraut wuchs und Frucht brachte        
            [...]“ (Matth. 13.24 und 26).
 
            „Der Sämann sät das Wort. [..] Und diese sind's, bei welchen auf ein       
            gutes Land gesät ist, die das Wort hören und nehmen's an und     
            bringen Frucht“ (Markus 4.14 und 20).
 
Entsprechend fand das Wort vom Schöpfergott, der Gräser und Kräuter wachsen und ihren Samen ausstreuen läßt, sowie vom Erlöser, der das Wort Gottes aussät, in altkirchliche Hymnen Eingang: „O sator rerum“ oder „Christe, cunctorum sator et redemptor.“ Auch sah man in der Sator-Formel den Beginn des „Pater noster“ („Vater unser“) Gebets verborgen. Wenn man zwei Mal die nach Ausweis der Geheimen Offenbarung (22.13) auf Christus bezogenen Anfangs- und Endbuchstaben des griechischen Alphabets Α und Ω (Alpha und Omega, das A und das O) und die 21 Buchstaben des Kryptogramms in Anagrammform neu ordnet und sie um das zentrale „N“ in Kreuzesform gruppiert, ergibt sich folgendes Bild:
 
                                                                       P
                                                                       A
                                                                       T
                                                             A       E      O
                                                                       R
                                                      P A T E R N O S T E R
                                                                       O
                                                             O       S       A
                                                                       T
                                                                       E
                                                                       R
 
Es ist gewiß kein Zufall, daß man die A-O-O-A-Gruppierung wieder horizontal, vertikal, vorwärts und rückwärts lesen kann.
 
Die christliche Ausdeutung des Spruchs sicherte indes sein Überleben in der alten Form vor allem in Kirchen- und Klostergebäuden. Man fand ihn zum Beispiel in Rom, in der Nekropole unter dem Petersdom (2. Jahrhundert) sowie im Untergeschoß von Santa Maria Maggiore (4. Jahrhundert), in Aquila am Portal von San Pietro (um 732), in Cremona als Bodenmosaik in San Giovanni (11. Jahrhundert) oder in Verona im Palazzo Benciolini (16. Jahrhundert).
 
Es gibt noch manch andere magische Sprüche oder Zauberformeln, die sich meist um ein geheimnisvolles, oft unverstandenes oder ganz unterschiedlich gedeutetes Zentralwort gebildet haben, etwa „Abrakadabra“, seit dem 3. Jahrhundert belegt und bis heute im Sprachgebrauch, in dem wohl eine hochstehende heidnische Gottheit namens „Abraxas“ unerkannt im christlichen Abendland überlebt.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021