Untiefen und Süchte

Sprachgeschichtliches

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Untiefen und Süchte
 
Sprachgeschichtliches
 
Von Heinz Rölleke
 
Es gibt im Deutschen einige Begriffe, deren Bedeutung sich im Lauf der Sprachgeschichte verändert, zuweilen sogar ins Gegenteil verkehrt hat; zwei von ihnen sollen hier vorgestellt werden, auch weil man immer wieder Diskussionen über die 'richtige' Bedeutung und deren Herkunft erlebt.
 
Schlägt man im ersten umfassenden deutschen Wörterbuch das Wort „Untiefe“ nach (Adelung, Bd. IV, 1780), so liest man nur eine Definition: Untiefe sei „der Gegensatz der Tiefe“, ein „Mangel der erforderlichen oder gehörigen Tiefe.“ Als Beispielsatz wird angeführt: „Die Untiefe des Flusses war schuld daran, daß das Schiff nicht weiter konnte.“ Solche Stellen im Wasser, „wo seichte Örter, Sandbänke unter Wasser, so fern sie die Schiffahrt hindern, Untiefen genannt werden.“ Eine andere Bedeutung wird mit keinem Wort erwähnt. Am Ende des 18. Jahrhunderts war die heute überwiegende Auffassung, mit „Untiefen“ bezeichne  man besonders große (gefährliche) Tiefen in Strömen oder Meeren, noch gänzlich ungebräuchlich. So warnen denn auch nach wie vor Signalbojen Schiffe nur vor flachen und nicht etwa vor tiefen Stellen im Fahrwasser. Erst im 19. Jahrhunderts hat sich das Sprachgefühl gewandelt, indem man die Vorsilbe „Un-“ volksetymologisch als Ausdruck einer Steigerung aufzufassen begann – angelehnt wohl an Bezeichnungen wie „Un-summe(n)“ oder „Un-menge(n)“. Bis dahin war die Vorsilbe „un-“ zumeist in der Funktion einer totalen Umkehrung von Adjektiven oder Adverbien ins Negative gebräuchlich: „un-mäßig“, „un-regelmäßig“, „un-schön“, „un-selig“ „un-ausgeschlafen“, „un-sortiert“. Vor Substantiven begegnete sie sehr selten; „Un-tiefe“ blieb in dieser Hinsicht eher eine Ausnahme, die man auf die Dauer mißverstand, indem man 'fälschlich' das „un-“ als Anzeige eines ungeheuer großen metrischen Maßes oder einer unermeßlichen Anzahl auffaßte.
 
In der Literatur gehörten Bettina von Arnim und Wilhelm Raabe wohl zu den ersten, die diese neue Auffassung des seit dem 8. Jahrhundert belegten Wortes (althochdeutsch „untiufi“) einbrachten. Die Sprachlexika bieten das Lemma „Untiefe“ seither in zwei Artikeln: „Bedeutungen: 1. flache, seichte Stelle in Gewässern, 2. große Tiefe.“ Dabei wird häufig die erste Bedeutung als „veraltet“ bezeichnet, was so nicht stimmt, wenn man an die Funktion der Warnbojen denkt, die zweite als „umgangssprachlich“, was auch nicht stimmt, weil das Wort in seiner jüngeren Bedeutung durchaus hochsprachlich im Gebrauch ist. Die beiden gegensätzlichen Auffassungen des Wortes bestehen durchaus noch nebeneinander: Die Schiffahrt muß auf Untiefen achten - viele Schiffe sind in den Untiefen des Meeres versunken. 
 
Im Sprachgebrauch sollte man eine Erläuterung beigeben, ob das Wort in seiner älteren oder seiner gegensätzlichen neueren Bedeutung angewendet und gemeint ist.
 
Ein ähnliches sprachgeschichtliches Schicksal haben die Komposita mit dem zweiten Wortteil „Sucht“, die zunächst jede Art von (körperlicher) Krankheit bezeichneten. Bis heute sind in diesem Sinn unter anderen in Gebrauch: „Gelb-sucht“, „Fall-sucht“, „Schwind-sucht“, „Tob-sucht“, „Bleich-sucht“, „Wasser-sucht“, „Misel-sucht“. Es wird niemandem einfallen, die Gelbsucht als ein starkes Verlangen nach „gelb“ oder gar als eine Abhängigkeit von dieser Farbe aufzufassen, weil das überhaupt keinen Sinn macht. Ebenso unsinnig wäre die Interpretation der Fallsucht als Begierde, ständig zu fallen. Gelbsucht ist nach wie vor ausschließlich Bezeichnung einer Krankheit, als deren Anzeichen die auf das durch einen Überschuß von Galle in den Blutbahnen hervorgerufene gelbe, fahle oder falbe Aussehen des Erkrankten abhebt. Die Epilepsie wird als Krankheit auch Fallsucht genannt – und das nicht, weil sie im modernen Sinn ein suchthaftes Verlangen nach Stürzen charakterisieren würde.
 
Im Gegensatz zur einseitigen Definition des Lemmas „Untiefen“ kennt Adelung 1780 zwei Anwendungsbereiche des in Rede stehenden Wortes:
„Sucht bedeutete ehedem eine jede Krankheit, sie sey welcher Art sie wolle“ - so seit dem 8. Jahrhundert belegt. Die modernere Bedeutung definiert und beurteilt Adelung in aufklärerischer Manier als „ungeordnete Begierde“. Das meint, man ist süchtig bis hin zur Abhängigkeit nach Substanzen und Gestimmtheiten: „Drogensucht“, „Trunksucht“, „Nikotinsucht“, „Spielsucht“; starkes Verlangen bezeichnen Komposita wie „Streitsucht“, „Ehrsucht“, „Geltungssucht“, „Habsucht“ - sämtlich negativ konnotiert; die einzige Ausnahme scheint „Sehnsucht“ zu sein.
 
Woher rühren die unterschiedlichen Auffassungen von „Sucht“? Zur Beantwortung dieser Frage muß man wohl sehr weit in die sprachgeschichtliche Vergangenheit zurückgehen.
 
Über mittel- und althochdeutsch „suht“ kommt man auf gotisch „saúts“ zurück und kann auf germanisch „*suhti“ schließen. Die Formulierungen scheinen mit „siech“ urverwandt, das seinerseits aus „sinken“ abgeleitet ist: Krankheit ist etwas, das einen niedersinken läßt. Im Neuhochdeutschen hat die lautliche Identität mit „suchen“ zu der volksetymologischen Deutung geführt, es handele sich hier um den gleichen Wortstamm wie bei diesem Verb: Demnach wird von den jeweils Süchtigen ein Streit, Ehre oder Geltung in „ungeordneter Begierde“ gesucht.
 
In der Literatur ist der Bedeutungswandel von körperlicher Krankheit zu krankhafter Begierde allenthalben nachweisbar. Bei Hans Sachs heißt es im 16. Jahrhundert: Ein Bettler „wünscht mir die und jene Sucht“, also alle Krankheiten auf den Hals. Um 1800 charakterisiert Friedrich Schiller die Ehrsucht als „stachelnde Sucht der Ehren.“, als gewaltsam antreibende Begierde nach Ansehen.
 
Obwohl der Kasus nicht so sehr der Klärung bedarf wie „Untiefe“, empfiehlt es sich doch, deutlich zu machen, ob man mit „Sucht“ eine Krankheit oder einen unstillbaren Hang zu etwas (bis hin zur krankhaften Abhängigkeit) meint.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021