Lesen! Was denn sonst ?

von Michael Zeller

Foto: Klaus Ender - © Gabriela Ender

Lesen! Was denn sonst ?
 
Von Michael Zeller
 
Jetzt, nach anderthalb Jahren der Seuche, ist die Bilanz aus Sicht der Literatur in diesem Land eine zutiefst gespaltene. Wie könnte es auch anders sein. Die Autoren – in diesem Zusammenhang empfände ich es als zynisch, zwischen Männlein und Weiblein zu trennen – die Autoren an sich stehen mit den anderen Kunstschaffenden ganz vorn an der Front der Opfer. Ihnen ist weitgehend ihre Lebensgrundlage entzogen worden.

     Ihre Produkte hingegen, die Bücher, die Literatur, die Schöne Literatur – sie hat sich als das wahre Vademecum in dieser Epidemie erwiesen. Wo ich hinhöre und hinschaue – es wird gelesen, wie ich es seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt habe. Wenn der Mensch völlig auf sich selbst zurückgeworfen ist, wenn jede Art von Geselligkeit ein Gesundheitsrisiko in sich birgt, von Dramatischerem zu schweigen, dann ist das gute, alte Buch, in welcher technischen Gestalt auch immer, ohne Konkurrenz.
Das intime Gespräch eines Einzelnen mit einem anderen einzelnen Menschen, ein Gespräch Auge in Auge, und stamme er aus dem fernsten Weltwinkel und habe er in unvordenklichen Zeiten gelebt – ein solches Gespräch leistet Literatur, und das leistet nur sie.
Dieses Wissen gibt dem Schreibenden ein unlöschbar starkes Gefühl. Und dieses Gefühl trägt ihn über alle Widrigkeiten hinweg, die ihm der Alltag in der Gesellschaft abfordert. In den Zeiten von Corona noch einmal in verschärfter Form. Wenn das Einkommen des Schreibenden, das sich sowieso schon im untersten Bereich aller Lohntabellen bewegt, gegen Null heruntergefahren wird, weil alle seine Veranstaltungen ausfallen müssen, von denen er ja hauptsächlich lebt, dann steht er wirklich nackt da.
Der Staat immerhin, das darf hier nicht verschwiegen werden, ist helfend eingesprungen, zumal das Land Nordrhein-Westfalen: es hat den freischaffenden Künstlern rasch und erstaunlich unbürokratisch unter die Arme gegriffen. So viel Unterstützung habe jedenfalls ich in den vielen Jahren meiner Berufstätigkeit von staatlicher Seite noch nicht erfahren. Und ein paar Freunde – sie haben mitgedacht und mitgefühlt und ausgeholfen.
Soviel zu Corona. Und wie sieht’s jenseits davon aus mit der Literatur?

     Wenn man in diesem Land heute über Literatur spricht, werden in der Regel zwei Bereiche vermengt,  die in der Praxis nahezu unüberbrückbar auseinanderklaffen und kaum etwas miteinander zu tun haben: die Schaffung eines Buches und sein Verkauf. Also der ökonomische Bereich, dort, wo Literatur streng nach den Regeln der Marktwirtschaft funktioniert – oder eben nicht.
Das sieht dann so aus: Die großen Verlage inserieren gegen teures Geld in den Zeitungen (wenn beide praktischerweise nicht gleich in einer Hand sind), dann werden ihre Neuerscheinungen an prominenter Stelle besprochen. Daran hängt sich (fast) alles an, was ein Autor zum (Über-)Leben braucht: Einladungen zu Lesungen, Stipendien, Preise. Nach 1990, mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Wegfall jeder Konkurrenz zur sogenannten Freien Marktwirtschaft, seit diesem Epochensprung ist das System mittlerweile wasserdicht geworden ist. Die Neue Zürcher Zeitung beschrieb das vor einiger Zeit so:  „Ein Buch, das in die Kategorie der Marktgängigkeit fällt – etwa das neueste Werk von XY -, wird quasi pflichtgemäß im Feuilleton ganz vorn besprochen. Ein Rezensent, der das Buch womöglich nicht so vorzüglich findet, steht automatisch im Abseits – kritisierte er doch implizit auch die Politik des Blattes, die aus mittelmäßigen oder sogar schlechten Büchern große Aufmacher zaubert.“ Dieses Kartell funktioniert in den letzten Jahren ohne jeden Reibungsverlust – wie geschmiert. Geschmiert - ein passendes Wort. 
Eine Probe aufs Funktionieren dieses raffiniert simplen Mechanismus kann man jeden Herbst machen, aus Anlass der Buchmesse in Goethes Geburtsstadt Frankfurt. Die Literaturbeilagen der Zeitungen im Land, der großen, mittleren wie der kleinen – sie gleichen, von Hamburg bis München, wie ein Ei dem anderen. Es herrscht Gleichschritt. Ob Goethes sperriger Roman „Wilhelm Meister“ in diesem Kartell je eine Chance bekommen hätte?
Abseits davon, neben den Gesetzen des Marktes, durch einen  Abgrund getrennt – abseits davon der stille Raum, in dem Literatur entsteht. Der ist verdammt eng geworden in den letzten Jahren. Großer Lebensmut gehört dazu, sich dort hinauszuwagen. Und jedes Schulkind in diesem Land weiß das. Bei Lesungen kommt immer und ziemlich bald die Frage, total cool: „Können Sie denn vom Schreiben leben?“

     Apropos Goethe – konnte der denn? Er konnte, weil er klug war und sich beizeiten einen Gönner ausgeguckt hatte, diesen Kleinfürsten von Weimar. Auf dem Markt nämlich sah‘s duster aus, auch für ihn. Sicher, der „Werther“ war ein wirtschaftlicher Erfolg, ein „Kultbuch“ würden es die Marktschreier heute nennen.  Doch ansonsten: Lange Gesichter bei Goethes Verlegern. Von dem wunderbaren „Westöstlichen Diwan“ fand man um 1900 im Keller eines Berliner Buchhändlers den noch nicht aufgeschnittenen großen Rest der Erstauflage. Siebzig Jahre nach seinem Tod! Da standen bereits die ersten Denkmale, aber alle seine Bücher waren noch nicht gelesen.
Denn der Renner auf dem Markt zu seiner Zeit, Goethes Schwager Vulpius – der verdiente sich dazumal mit seinen sentimentalen Schauerromanen eine goldene Nase. Wer weiß heute noch von ihm – außer daß er der Schwager eines Schriftstellers war?     
Die Würfel über den literarischen Wert eines Buches fallen spät, meist zu spät für seinen Autor. Ein Schriftsteller, der diesen Namen verdient, wird selten fett, seine Erben manchmal.

     Nicht von den Hitparaden abzuräumen, deren Platzhalter man in ein, zwei Jahren vielleicht gar nicht mehr kennt, ist die Aufgabe der Literaturpflege. Dazu wird sie nicht gebraucht. Sie soll den Titeln Raum geben, die abseits des Massengeschmacks und der dicken Werbeetats die dringenden Probleme unserer Zeit literarisch zu Wort zu bringen suchen. Bücher, die diese Gesellschaft zur geistigen Bestandsaufnahme braucht. Bespaßt wird sie ja gerade genug.
 

© 2021 Michael Zeller
 
Redaktion: Frank Becker