Unpathetisch wertvoll

„Stillwater“ von Tom McCarthy

von Renate Wagner

Stillwater – Gegen jeden Verdacht
USA 2021

Regie: Tom McCarthy
Mit: Matt Damon, Abigail Breslin, Camille Cottin u.a.
 
Wer bei dem Begriff „Stillwater“ an stille Wasser denkt, die bekanntlich tief sein sollen, liegt im Prinzip nicht schlecht – aber würde man das auch bei einem ruhigen, bulligen Trump-Wähler annehmen? So steht Matt Damon als Bill Baker vor uns, Holzfällerhemd und Baseball-Kappe, mit angegrautem Haar, von einer gewissen Müdigkeit umflort. Der amerikanische Durchschnittsmann aus Stillwater, Oklahoma, von dem man gar nicht erwarten würde, daß er ein „Schicksal“ hat.
 
Aber dann erfährt er, daß seine Tochter, von der er längst entfremdet ist, unter der Anklage, ihre Freundin ermordet zu haben, in Marseille im Gefängnis sitzt. Wenn er sich nun nach Frankreich aufmacht, enttäuscht Regisseur Tom McCarthy alle möglichen Erwartungen auf einen rasanten Thriller, wo der Vater wie ein schnaubender Bulle loszieht, Töchterchen zu befreien. Sicher will er ihr Schicksal ändern – aber das funktioniert hier nicht nach den üblichen Kinoregeln.
Der ruhige Mann steht vor vielen Mauern, zumal er in Europa, in Frankreich, mit einer völlig neuen Welt konfrontiert ist, deren Regeln er nicht kennt und deren Sprache er nicht spricht. Aber er flippt nicht aus, er sieht nicht rot. Er setzt einen Fuß vor den anderen.
Konfrontationen mit der Tochter Allison (Abigail Breslin) im Gefängnis sind nicht gerade erfreulich, die junge Dame ist nicht gebrochen, sondern angriffslustig, wirft ihm vor, sich nie um sie gekümmert zu haben, verlangt, daß er sie aus dem Gefängnis holt. Die Anwältin kann ihm diesbezüglich nicht viel Hoffnung machen. Deprimierend – und erstaunlich, wie die Regie diese an sich abgründige Situation nicht überdramatisiert.
Sicherlich meint es das Drehbuch gut mit Bill Baker, als er der Französin Virginie (Camille Cottin) begegnet, die als hilfreicher Gutmensch dem armen, verlorenen Kerl aus den USA hilft, zumindest in der sprachlichen Kommunikation. Ist es glaubhaft, daß sie ihn auch in ihre Wohnung aufnimmt? So, wie sie gezeichnet ist, eine unbürgerliche Schauspielerin ohne Vorurteile – ja. Und es funktioniert in aller Stille zwischen ihr, ihrer kleinen Tochter Maya (Lilou Siauvaud) und Bill. Keine triefende Romanze und schon gar keine Schnulze, auch wenn es mit kleinen Kindern auf der Leinwand auf der Gefühlsebene bekanntlich immer heikel wird.
 
Aber eine glaubhafte, schöne Entwicklung, vor allem von Matt Damon beeindruckend-fabelhaft gespielt. Und nein, er bleibt natürlich nicht hier und fängt ein neues Leben an. Er wird mit der letztlich aus dem Gefängnis geholten Tochter in die USA zurückkehren.
Man kommt nicht darum herum, sich bei diesem Film an den Fall von Amanda Knox zu denken, die 2011 in Italien des Mordes an ihrer Zimmerkollegin schuldig gesprochen wurde. Man hat (wie im Film) das Urteil revidiert, weil neue Verdachtsgründe auftraten, und nicht, weil ihre Unschuld erwiesen war. Daß die echte Amanda Knox sich sehr über den Film beschwert hat, ist verständlich. Sie hätte wohl nichts dagegen gehabt, hätte man sie als verfolgte, leidende Unschuld dargestellt, deren Schuldlosigkeit am Ende bewiesen wird. Doch mitnichten – Abigail Breslin spielt ein unliebenswürdiges Geschöpf, und auch als sie nach Amerika heimkehren darf, geschieht es nur, weil nach neuen Erkenntnissen nicht genügend Beweise für ihre Schuld bestehen.
Es gibt kein Happyend mit Papa, nur zwei unglückliche Menschen, die auf der Terrasse ihres Hauses sitzen. So, wie diese junge Frau will sich wohl niemand dargestellt sehen. Aber als Film, der vor allem die Geschichte eines Mannes erzählt, der in einer Extremsituation im Grunde ganz er selbst bleibt, ist „Stillwater“ bemerkenswert. Nicht der „häßiche Amerikaner“, als die man die nicht-intellektuelle Bevölkerungsschicht des Kontinents gerne sieht. Sondern als einfacher Mann, der sich unpathetisch seinem Schicksal stellt. Das Prädikat „wertvoll“ mag der Form wie der Aussage des Films zuzuschreiben sein.
 
 
Renate Wagner