„Dies Kind stellt sich in dieses Elend ein.“

Ursprung und Bedeutungswandel eines bemerkenswerten Wortes

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Dies Kind stellt sich in dieses Elend ein.“
„Armes kleines Menschenkind! Welch böser
Stern verdammte dich in dieses Elend?“
 
Ursprung und Bedeutungswandel eines bemerkenswerten Wortes
 
Von Heinz Rölleke
 
Etwa 250 Jahre liegen zwischen den beiden Worten über oder an ein neugeborenes Kind. Sie finden sich in den barocken Sonetten des Andreas Gryphius (1637) und im naturalistischen Roman „Papa Hamlet“ von Arno Holz (1889). Beide ausweglos pessimistisch klingenden Aussagen sind auf  dem Hintergrund uralter Vorstellungen zu sehen, zum einen, daß es für einen oder die Menschen allgemein, das Beste sei, nicht geboren zu sein: μη φυναι, τον απαντα νικα λογον (nicht geboren zu werden, übertrifft jeglichen Wert) resümiert der Chor im letzten Drama des 90-jährigen Sophokles „Oedipus auf Kolonos“ 401 v. Chr., zum anderen auf der übereinstimmenden Einsicht der sogenannten vier lateinischen Kirchenväter Ambrosius, Hieronymus, Augustinus und Gregorius (gestorben zwischen 397 und 604  n. Chr.), daß der Mensch weinend auf die Welt komme – er weint über das ihn erwartende elende Leben auf dieser Erde, das ihm Gelegenheit zu allem Unglück und vor allem zur Sünde gibt. Nun steht einem Christenmenschen keine Verzweiflung über Gottes Einrichtung der Welt zu, und so verweist man immer stärker auf das ewige, wirkliche Leben im Paradies. Um dahin zu gelangen, muß der Mensch allerdings durch die Geburt in sein elendes Leben eintreten und es durch seinen Tod wieder verlassen.
 
Gryphius und Arno Holz bezeichnen die üblen Gegebenheiten des irdischen Lebens mit derselben Vokabel als „dieses Elend“, drücken aber damit auch wesentliche Nuancen aus. In seinem Deutschen Wörterbuch stellt Jacob Grimm 1862 das Wort als zweigeteiltes Lemma vor, Zeichen für eine sonst selten begegnende Besonderheit: Unter Nr. 1 erläutert er „Elend“ als „exilium“ (Fremde, Verbannung) und rühmt als ein sich seit 1829 zeitlebens nach seiner Heimat Hessen Sehnender diese altdeutsche Bezeichnung als „schönes Wort, vom Heimweh eingegeben“; unter Nr. 2 gibt er „miseria“ (Leid, Beschwernis) als Erklärung an. Er führt zum Bedeutungswandel der alten Bezeichnung „Elend“ in neueren Zeiten aus:
 
            da nun fremde und verbannung weh thun und unglücklich machen,         
            nahm „elend“ nach und nach den begrif von „miseria“ an und der
            ursprüngliche trat vor diesem endlich ganz zurück.
 
Vor dem Hintergrund dieser sprachgeschichtlichen Gegebenheit kann man im Gryphius-Sonett die Anrede an das Christuskind anläßlich dessen Beschneidung unter die durch die seit der Antike geprägte Vorstellung einordnen, nämlich daß „Elend“ das Ausland meint. Der Sohn Gottes hat sich aus seiner himmlischen Heimat freiwillig in die Fremde, ins „Elend“ des irdischen Lebens begeben, um die Menschen daraus zu erlösen und ihnen den Weg in ihre eigentliche, die himmlische Heimat zu eröffnen. Auch ein altes Volkslied (im „Wunderhorn“ überliefert und durch Mahlers 2. Symphonie wieder bekannter geworden) geht von dieser Vorstellung aus, dass des Menschen eigentliche Heimat der Himmel Gottes war und wieder sein wird:
 
                        Der Mensch liegt in größter Pein,
                        Je lieber mögt ich im Himmel sein
                        […]
                        Ich bin von Gott, ich will wieder zu Gott
                        […] in das ewig selig Leben.
 
Dagegen hebt Arno Holz ganz auf die neuere Bedeutung des Wortes ab: Mit seiner Geburt gerät jeder Mensch unausweichlich in das „Elend“ des irdischen Lebens, ohne zuvor gefragt worden zu sein (eine Schicksalsmacht, ein „böser Stern“ wird hier verantwortlich gemacht).
 
Ab wann hat der Begriff „Elend“ sich derart verändert? Selbstverständlich sind wie stets die Übergänge auch zeitlich fließend. Einerseits wird „Elend“ schon vor der allgemeinen Durchsetzung des Bedeutungswandels
sporadisch in der neuen Weise gedeutet und verstanden, andererseits ist die ältere Bedeutung auch in neueren Zeiten noch hie und da vereinzelt anzutreffen.
 
Eine Grenzscheide läßt sich an einem der berühmtesten deutschen Volkslieder festmachen: Heinrich Isaacs „Innsbruck, ich muß dich lassen“, das um 1500 entstand. Der Text der drei Strophen wurde lange Zeit fälschlich Kaiser Maximilian I. zugeschrieben, der mit seiner Tiroler Stadt Innsbruck zeitlebens in besonderer Verbindung stand und viel für sie tat. Im Liedtext wird Innsbruck zu (seiner) eigentlichen und stets geliebten Heimat stilisiert, von der sich der Sänger nur ungern für kurze oder längere Zeit trennen muß. Ihm werden also die im berühmten Abschiedslied  angesprochenen Gefühle und ein diesen entsprechender Wortschatz in den Mund gelegt:
 
                        isbruck,ich muß dich lassen
                        ich fahr dahin mein strassen
                        in frembde landt dahin
                        […]
                        wo ich im elend bin.
 
Entgegen seiner Neigung „muß“ der Sänger die als seine Heimat empfundene Stadt verlassen. Nun durchzieht er „fremde“ Länder, und er fühlt sich mit Recht „im Elend“. Die Fremde, die wie eine Verbannung („exilium“) wirkt, tut ihm nach der Definition Jacob Grimms „weh“ und macht ihn „unglücklich“. Eine neuere Auffassung des Begriffs „Elend“ deutet sich dagegen in den beiden Folgestrophen an: Das Leid wird nicht mehr den traurigen Erfahrungen in anderen Ländern (fern der Heimat, im „Elend“) zugeschrieben, sondern es hat seinen ganz allgemeinen Grund in der Trennung von einem geliebten Menschen:
 
                        Groß Leid muß ich jetzt tragen
                        […]
                        Mein Trost ob allen Weiben,
                        Dein tu ich ewig bleiben
                        […]
                        Bis daß ich wieder kum.
 
Hier ist in eindeutig neuerer Auffassung die Bedeutung von „Elend“ als  allgemeines Leiden („miseria“) aufgefaßt, in diesem Fall das Leiden an einer erzwungenen Trennung von einem geliebten Menschen.
 
In solchem Doppelsinn begegnet der Begriff „Elend“ auch wenig später in Luthers Bibelübersetzung. Nach der schon lange währenden Ägyptischen Gefangenschaft der Israeliten verspricht ihnen der Herr Befreiung: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen […]. Ich will euch aus dem Elend Ägyptens führen“ (2. Mose 3.7 und 3.17). Beide Male meint „Elend“ eindeutig und ausschließlich „Ausland, Exil“. Aus dem Exil wird der Herr sein Volk in eine neue Heimat, das Gelobte Land, führen. Beim Zug durch die Wüste meint das Volk, in ein neues Elend („miseria“) zu fallen, und man sehnt sich nach der Zeit im „Elend“ der Gefangenschaft zurück, „als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot“ (2. Mose 16.3). Man fürchtet das eine „Elend“ (im alten Wortsinn) gegen ein anderes (im neuen Wortsinn) getauscht zu haben.
 
Seit dem 13. Jahrhundert wird der Heilige Geist zu Pfingsten angefleht, uns in der Todesstunde den Weg aus der Fremde des irdischen Daseins in die ewige Heimat finden zu lassen:
 
                        Nû bitten wir den heiligen geist                   
                        […]
                        daz er uns behüete an unsrem ende,
                        sô wir heim sulln varn
                        ûz disem ellende.
 
Die Melodie macht unabweislich, daß das Wort „ellende“ auf der zweiten
Silbe betont wurde, denn die ursprüngliche Zusammensetzung des  Kompositums aus dem Adjektiv „el“ (verkürzt aus ursprünglichem „elli“: anderes) und dem Substantiv „lenti“ (Land) war noch lange Zeit bewußt. Angelus Silesius hat es noch einmal auf den Punkt gebracht: „Der Weise. Sein Elend ist die Welt, sein Vaterland der Himmel.“
 
In den lange Zeit berühmten und gängigen Liedern, die auf dem Jacobspfad, der durch viele, den meisten Pilgern völlig fremde Länder führte, gesungen wurden, ist die alte Bedeutung von „Elend“ (Ausland, anderes Land) noch ausschließlich gegeben. Im „Wunderhorn“ finden sich zwei St. Jacobs-Lieder, zunächst „Wer das Elend bauen wöll“. Es handelt von jedem, der (eine Zeitlang) im Ausland Wohnung nimmt und dabei das „Elend“ des Fernseins von der Heimat erleidet. Das Lied ist eine Art Reiseführer und reflektiert entsprechend kaum das eigentliche Zentralthema solcher Wallfahrten vom Weg durch das irdische zum himmlischen Leben. Dieser wird im monströsen Lied nach einem Manuskript von 1477 thematisiert. Die Wallfahrt zum Jacobsgrab ist ein Bild für den Weg durchs irdische Leben, der „in das andere Land“ (in den Himmel) führen soll. Damit ist wieder das Erdendasein als Leben in der Fremde aufgefaßt, dessen Ziel am Ende die rechte Heimat im Himmel ist,  wie es die Schlußstrophe zeigt:
 
                        Gott! Der weise uns ins ewig Leben;
                        Daß wir da werden mögen bekannt
                        Mit allen Heiligen in dem himmlischen Land.
 
In der Zeit des sich langsam durchsetzenden Bedeutungswandels hatte die Kirche die von Gryphius als das „Menschliche Elende“ bedichtete vanitas, die nach der Verbannung aus der himmlischen Heimat alles Irdische beherrscht, mit drastischeren Bezeichnungen charakterisiert, zum Beispiel im Lied des Friedrich von Spee „Ihr Freunde Gottes allzugleich“, das nunmehr alle Heiligen im Himmelreich zum Geleit in der Todesstunde anfleht: „Helft uns aus diesem Jammertal […] zum Himmel“, und zwar aus dem „Elend“ des vergänglichen Erdendaseins  - nun endgültig nur noch im Sinn von Jämmerlichkeit und nicht von Verbannung verstanden -  in die ewige Herrlichkeit des Himmels (bezeichnenderweise wurde in jüngerer Zeit der alles Diesseitige brutal abwertende Begriff „Jammertal“ durch neutraleres „Erdental“ ersetzt). Sozusagen im Vorgriff auf diese Drastik hatte Hermann von Reichenau in seinem „Salve Regina“ aus dem frühen 11. Jahrhundert zwar noch von der Erde als „exilium“ („et Jesum […] post hoc exsilum ostende“) gesprochen, sie aber auch schon ein „lacrimarum valle“ (Tal der Tränen) genannt. Als genauer Kenner des „Salve Regina“ hat übrigens der Librettist von Verdis Oper „Aida“ auf diese Wendung im Schlußduett angespielt, wenn das Liebespaar die Erde mit den Worten verläßt: „O terra, addio, addio valle de pianti“ (Tal des Weinens).
 
Die Etymologie von „Elend“ kann von althochdeutschen Belegen wie  „ali lanti“ und „eli lenti“ ausgehen, die dann bei Notker bereits um 900 als Einwortbildung als „elelende“ oder „ellende“ begegnen. Eine solche Kompositumbildung durch Adjektiv und Substantiv enstand noch jüngst im gleichen Begriffsfeld: Aus die „andere Welt“ wurde im speziellen Sinn die „Anderswelt“.
 
Die Bedeutungsnuancierung läßt sich zunächst am deutlichsten an Luthers Bibelübersetzung zeigen. In der Gegenwartssprache gibt es sozusagen kein Halten mehr, was das Spektrum von „Elend“ als Adjektiv (zuweilen auch als „elendiglich“ hypercharakterisiert) wie als Substantiv sowie dessen mannigfache Bedeutungen betrifft. Fausts empörter Aufschrei angesichts Gretchens Einkerkerung als explosiver Eingang der Szene „Trüber Tag. Feld“ läßt sozusagen die Gewalt spüren, die in der Bezeichnung „Elend“ zum Ausdruck kommen kann: „Im Elend! Verzweifelnd! Erbärmlich“, das heißt ganz und gar erbarmungswürdig. Die Fülle der Bedeutungen scheint noch immerfort zu wachsen; beliebig als Beispiele herausgegriffen: miserabel, jämmerlich, bejammernswert, arm, ärmlich, ruiniert, minderwertig, „elende Kälte“, „elender Gestank“, das nackte oder das blasse Elend und viele andere mehr... .
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021