„Den Nachkommenden den Pfad ein bißchen behaglicher zu machen“

Erinnerung an Wilhelm Raabes Geburtstag am 8. September 1831

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Den Nachkommenden den Pfad
ein bißchen behaglicher zu machen“
 
Erinnerung an Wilhelm Raabes Geburtstag
am 8. September 1831
 
Von Heinz Rölleke
 
Am 6. September 1906 schrieb Wilhelm Raabe an Maria Jensen, seine verehrte und ihm seit langem freundschaftlich verbundene Freundin, zwei Tage vor seinem und ihrem Geburtstag am Festtag Nativitas Mariae:
 
          Also heute von meiner letzten Station vor dem Achtzigsten Dir den
          gewohnten Geburtstagsgruß zu  u n s e r m   achten September! Da sind
          wir mal wieder alle beisammen auf dem Abreißkalender: der Ludwig
          Ariost [geb.1474], der August Wilhelm Schlegel [1767], der Klemens
          Brentano [1778], der Eduard Mörike [1804] und  -  die beiden Marien:
          die bittere Jungfrau aus Nazareth und die   A n d e r e ,  Wilhelm Jensens
                                                                         Frau und Wilhelm Raabes Freundin!
 
Es ist typisch für den großartigen Romancier, wie er sich auch hier bescheiden, ohne sich direkt zu nennen und doch selbstbewußt, der Reihe der am 8. September geborenen Dichter anschließt. Daß er dabei der vom romantischen Dichter Clemens Brentano lancierten Fehlinformation aufsitzt, ist verzeihlich, denn am Ende des 19. Jahrhunderts wurde allgemein und heute noch vereinzelt nicht Brentanos tatsächlicher Geburtstag (9. September 1778) verzeichnet: Der Romantiker, der sein erstes Werk unter dem Pseudonym „Maria“ veröffentlichte, wollte partout am Fest Mariae Geburt zur Welt gekommen sein – seinen Eingriff in die Geschichte sah er sozusagen erst recht im Sinn der göttlichen Vorsehung gerechtfertigt, als er später erfuhr, daß als Geburtstag seiner Geistlichen Muse, der inzwischen selig gesprochenen Anna Katharina Emmerick, tatsächlich der 8. September 1774 galt. Der dichterische Ruhm Brentanos war seit seiner Revertierung zur katholischen Kirche teilweise und nach seinem Tod im Jahr 1842 fast gänzlich verblaßt. Raabe ist einer der wenigen, die Brentanos geniales dichterisches Talent hoch schätzten, was sich allein schon an der hohen Zahl von Brentano-Zitaten in seinem Werk ablesen läßt. Auch daß er zu den frühesten Verehrern des lange als schwäbischer Kleinmeister verkannten Eduard Mörike gehörte, spricht für seinen exzellenten und damals in seinen Kreisen singulären literarischen Geschmack.
 
Ansonsten verehrte Raabe vor allem die Persönlichkeit Goethes, zu dem er sich selbstironisch mit der Bemerkung bekannte, er sei der letzte deutsche Dichter, der noch „einen Zipfel“ der Goethezeit repräsentiere, denn er sei bei Goethes Tod am 22. März 1832 immerhin schon ein halbes Jahr alt gewesen.
 
Es ist einfach nur staunens- und bewundernswert, über welch immense Kenntnisse der Literatur von der Antike bis zu seinen Zeitgenossen er souverän verfügte und wie organisch und unaufdringlich er diese in seine Werke einfließen ließ. Dabei handelt es sich kaum um schulisch vermitteltes Wissen. In der Kleinstadt Eschershausen in der Nähe von Holzminden geboren, 1845 nach Wolfenbüttel verzogen, wo er später vergeblich versuchte, das Abitur nachzuholen: Er hatte zuvor den Besuch des Gymnasiums wie später die anschließende Buchhändlerlehre vorzeitig und jeweils ohne Abschluß abgebrochen. Trotzdem durfte er als Bürgersohn (der Vater, ein Justizbeamter, war 1845 gestorben) in Berlin universitäre Lehrveranstaltungen belegen, was er aber nur sporadisch und nicht systematisch wahrnahm. Immerhin gewann er damit Einblick in die Philologie, was ihm bei seinen schriftstellerischen Arbeiten von nicht zu unterschätzendem Nutzen wurde.
 
Am 15. November 1854 (ein von Raabe zeitlebens als „Federansetzungstag“ gefeiertes Datum) begann er mit der Niederschrift

© Grotesche Verlagsbuchhandlung 1910
seines ersten Romans „Die Chronik der Sperlingsgasse“; offensichtlich entschloß er sich zugleich zur Berufslaufbahn als Schriftsteller. Er liebte diesen Beruf, aber Reichtümer hat er damit nie erworben, und er seufzte zeitlebens über die Fronarbeit des Schreibens für den Broterwerb. Als er an seinem 70. Geburtstag - unter anderem dank einiger Stipendien - endlich den Unterhalt seiner Familie gesichert sah, legte er die Feder sofort und endgültig nieder, und zwar mitten in der Arbeit an seinem letzten Roman „Altershausen“, der Fragment verblieb, das erst 1913 posthum erschien: Raabe war am 15. November 1910, seinem Federansetzungstag, verstorben.
 
Sein umfangreiches Werk gliedert sich deutlich in drei Perioden, die Raabe selbst rückblickend mit seinen jeweiligen Wohnorten in Verbindung brachte: sechs Jahre in Wolfenbüttel, acht Jahre in Stuttgart und über dreißig Jahre in Braunschweig. In der frühesten Periode schrieb er in erster Linie für den Broterwerb: In verschiedenen Almanachen erschienen zahlreiche kleine Geschichten, kurze Novellen und Ähnliches. Sein unter dem Pseudonym Jakob Corvinus erschienener Erstlingsroman, für den er zunächst einen Druckkostenzuschuß zahlen mußte, fand nach einiger Zeit unerwartet reißenden Absatz, so daß er ihm den meisten Ertrag seiner Arbeiten zu verdanken hatte. „Er hilft mir heute noch neben dem 'Hungerpastor' im Erdenhaushalt am meisten mit zum Leben“, schrieb er 1906 in einer autobiographischen Skizze. In der Stuttgarter Zeit, beflügelt durch den Umgang mit zahlreichen schwäbischen Dichtern und Geistesgrößen, entstanden dann unter anderen sein größter Bucherfolg „Der Hungerpastor“ (1863), der ihm zum ersten Mal einen größeren Leserkreis bescherte, sowie die bedeutenden „Abu Telfan“ und die heute wieder aktuelle Auseinandersetzung mit der Pest-Epidemie „Der Schüdderump“ (1867 und 1869). Die Dichtungen der Braunschweiger Jahre von „Horacker“ und „Wunnigel“ (1875 und 1876) bis zu „Das Odfeld“, „Stopfkuchen“. „Die Akten des Vogelsangs“ und „Hastenbeck“ (1887 bis 1898), alle im Rang von Weltliteratur, heben die deutsche Romandichtung auf ein ganz neues, hohes und auch schon modernes Niveau, was die Themen wie vor allem deren unauffällig kunstvolle Präsentation betrifft. Raabe schätzte rückblickend die Jugendarbeiten als nicht der Rede wert und ihm selbst sogar etwas peinlich ein. Aus dieser Periode wurde indes ausgerechnet „Die schwarze Galeere“ (1860), eine kurze Novelle, die gleichzeitig mit drei weiteren Arbeiten entstanden war und durch pseudoromantische Klischees in die Nähe des Kitsches führt, schon früh zur Schullektüre. Diese schwache Leistung blieb damit Generationen hindurch für viele deutsche Leser die einzige Begegnung mit dem großen Dichter und schreckte auf fatale Weise von weiterer Lektüre ab. Raabe hat es sehr bedauert, daß die Meisterwerke seiner Spätzeit allgemein wenig goutiert wurden – ein

Wilhelm Raabe 1885
fast skandalöser Vorgang, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch steigende Zuwendung der Literaturwissenschaft und einige hervorragende Interpretationen (zum Beispiel des berühmten Theologen Romano Guardini bahnbrechende Studie zum „Stopfkuchen“ im Jahr 1962) allmählich beendet wurde, ohne dasß der Autor bis heute die gebührende Anerkennung in einer breiteren Leserschaft gefunden hätte – in dieser Hinsicht drängen ihn bis heute zeitgenössische Autoren wie Theodor Storm oder Theodor Fontane, deren Werke allerdings auch leichter rezipierbar sind als seine vielschichtigen anspruchsvollen Romane, immer noch ein wenig in den Hintergrund. Vielleicht wirkt immer noch das Urteil der Kritiker und der hochpatriotisch gesinnten Leserschaft am Ende des 19. Jahrhunderts nach, als man Raabe verübelte, daß er nicht in den allgemeinen Jubel über den Ausgang des deutsch-französischen Krieges und die Reichsgründung (1871) einstimmte und auf die sprunghaften, unorganischen Entwicklungen der Gründerjahre mit wahrhaft angemessenem Pessimismus - wenn auch durch seinen hintergründigen Humor gemildert - reagierte.
 
Die drei Perioden seines dichterischen Schaffens entsprechen auch einem Epochenwechsel in der deutschen Literaturgeschichte. Wie die meisten Schriftsteller während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war auch Raabe zunächst noch von den zu Ende gehenden Schöpfungen der Weimarer Klassik wie der Romantik stark beeinflußt. Durch die französische Julirevolution von 1830 angeregt, hatte sich eine jüngere Generation rigoros von den vorhergehenden Epochen gelöst. Unter den Schlagworten Literatur des „Vormärz“ oder des „Jungen Deutschland“ kämpften Autoren wie Wienbarg, Börne, Gutzkow oder Laube in ihren theoretischen Schriften vehement vor allem wirkungsvoll gegen Goethe, während ihren poetischen Hervorbringungen weniger Resonanz und Lebensdauer beschieden war. Die spektakuläre Wandlung Heinrich Heines vom jugendlichen Romantiker zum satirischen Realisten ist allgemein bekannt geblieben. Wie dezent und kunstvoll dagegen Raabe sich von den Stoffen und der Darstellungsmanier seiner frühen Werke löste, verdeutlicht eine Reflexion in dem am 1. November 1862 vollendeten Roman „Die Leute aus dem Walde“, die, ganz moderne  Dichtungstendenzen vorwegnehmend, als „stream of consciousness“ (Wiedergabe des Bewußtseinsstroms“ einer Romanfigur) aufgefasst werden kann, zugleich aber auch wie ein Selbstgespräch des Erzählers anmutet:
 
            Mit übereinandergeschlagenen Armen stand der Künstler da […]. Von der          
            nächsten Ecke herüber pfiff der Nachtwächter höchst unpoetisch die      
            zwölfte Stunde. Es ist ein Jammer, die ganze Maschinerie der Romantik  
            fällt allgemein auseinander, wie armen Teufel von Erzählern mögen noch
            so viel uns mühen, die Räder wollen nicht mehr, die Haken und Hebel    
            sind zerbrochen.
 
Mit dem Adverb „unpoetisch“ ist die neue Ausrichtung der Künste und speziell der Literatur nach den gesellschaftlichen Wandlungen markiert: Das Zeitalter Goethes und der Romantiker ist unwiederholbar dahin, und man versucht, den neuen Gegebenheiten durch den „Poetischen Realismus“ gerecht zu werden: Realismus ist die Parole, aber die Poesie soll darüber nicht gänzlich ihren Platz räumen, wie das später die Naturalisten proklamierten. Das, was bislang als romantisch-poetisch galt, deutet  Raabe versteckt aber unmißverständlich an einem kleinen Detail an: Früher riefen die Nachtwächter die Stundenzahlen der Nacht  aus oder sangen sie gar mit jeweils einem Spruch ab (dergestalt Musik und Dichtung verbindend). So deutet es Hölderlin in einem seiner bekanntesten Gedichte an:
 
            Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken.
            Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl.
 
Diese hochromantische Nachtszene gehörte zu Brentanos Lieblingsdichtungen, und er übernahm sie oft in seine eigenen Werke, am markantesten in der Eingangsszene zur Novelle „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“, die wiederum Raabe sehr schätzte:
 
            Die Nachtigallen sangen durch die Straßen und verstummten heute in     
            einer kühlen Nacht, welche von fernen Gewittern zu uns herwehte; der   
            Nachtwächter rief die elfte Stunde an.
 
Raabe verabschiedet sich mit der ganz leichten Umwandlung des Zitats spürbar wehmütig von Klassik (Hölderlin) und Romantik (Brentano), und er zieht sozusagen im gleichen Moment die Konsequenz: Bereits am 6. November 1862, schon fünf Tage nach der Vollendung seines noch halbromantischen Romans „Die Leute aus dem Walde“, beginnt er mit dem Roman „Der Hungerpastor“ eine neue Sequenz seiner Werke, die den Idealen des Poetischen Realismus vollauf gerecht werden. Und mit seinen Dichtungen aus der Stuttgarter Zeit gewann er bezeichnenderweise eine größere zeitgenössische Leserschaft, der er sich schließlich in seinen von Lebensweisheit, -klugheit und -erfahrenheit geprägten letzten Romanen mit ihrer tiefen Symbolik immer öfter direkt zuwandte. Als ein Beispiel aus vielen sei die milde Anrede zitiert, mit der er sich von seinen Lesern verabschiedet und ihnen unaufdringlich guten Rat gibt:
 
            Und nun gute Nacht und habt ferner euren Trost aneinander und gönnt   
            uns Alten unsere Ruhe, wenn unsere Schlafenszeit gekommen ist.
 
Man könnte die Tendenzen des ganzen Raabe'schen Spätwerks als Anknüpfung an die Ende des 12. Jahrhunderts formulierte Zielsetzung des Dichters Hartmann von Aue auffassen. Im Prolog zu seiner lange Zeit als Pflichtlektüre an deutschen Gymnasien behandelten Legendendichtung „Der arme Heinrich“  (Raabe kannte sich übrigens in der deutschen Literatur des Mittelalters erstaunlich gut aus) berichtet er von seiner Suche nach einem seinem Ideal entsprechenden Werk, an das er anknüpfen möchte:
 
                        er nam in manige schouwe
                        an mislichen buochen:
                        daran er begunde suochen,
                        ob er iht des vunde,
                        dâ mite er swaere stunde
                        möhte senfter machen.
 
Das heißt, er möchte seinen Lesern und sich selbst durch entsprechende Lektüre das Leben in schweren Augenblicken mildern (senfter machen). Der hier aus einem späten Brief Raabes zitierte Titel dürfte wohl als eine leicht abgewandelte Übersetzung des alten Mottos aufzufassen sein: Der Dichter möchte dem Leser den Pfad seines Lebenswegs „ein bißchen behaglicher“ machen. Diese Behaglichkeit vermögen die späten Romane auch und gerade dem heutigen Leser zu schenken, wenn er sich mit ruhiger Sammlung und in Offenheit auf sie einläßt.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021