Eduard Mörike: „Gebet“

Vom Ideal der 'Goldenen Mitte'

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Eduard Mörike: „Gebet“
 
Vom Ideal der 'Goldenen Mitte'
 
Von Heinz Rölleke
 
Eines der bekanntesten und meistvertonten Gedichte Eduard Mörikes erschien zum ersten Mal vollständig 1848 in seiner Gedichtsammlung:
 
Gebet
 
Herr! schicke, was du willt,
Ein Liebes oder Leides;
Ich bin vergnügt, daß beides
Aus deinen Händen quillt
 
Wollest mit Freuden
 Und wollest mit Leiden
                                       Mich nicht überschütten!
                                                             Doch in der Mitten
                                                               Liegt holdes Bescheiden.

Die zweite Strophe hatte bereits 1832 als selbständiges Gedicht ihren Platz im Roman „Maler Nolten“. Dort spricht Agnes, die

Eduard Mörike 1851, Bonaventura Weiß pinx.
Verlobte Noltens, die seit ihrer Nervenkrankheit unter Anfällen von Gemütskrankheit leidet und schließlich im Selbstmord endet, von den brieflich zitierten fünf Versen als von „meinem heutigen Morgengebet“, was wohl anzeigt, daß die Ergebenheitshaltung in der Urfassung des Gedichts von der Sprecherin keineswegs erreicht und gelebt wird. Schließlich fühlt sie sich von ihren „Leiden“ überschüttet und erträgt sie eben nicht länger. Dieser Kontext spielt für die Neufassung des Gedichts aus dem Jahr 1848 überhaupt keine Rolle mehr. Die nunmehr eigenständig veröffentlichten Verse geben jetzt zuversichtlichen Rat für ein gelingendes Leben, und so wird das „Gebet“ auch bis heute rezipiert. Beide christlichen Konfessionen veröffentlichen es, immer wieder mit neuen Deutungen als Text zum Thema 'Dankbarkeit', und die Musik der etwa dreißig Vertonungen (die berühmteste ist die für gemischten Chor von Max Bruch) drückt in erster Linie unverkennbar zufriedenes Gottvertrauen aus. Der Pfarrer Eduard Mörike redet mit dem ersten Wort der Neufassung Gott in Gebetsform an und versichert sich und dem „Herrn“ die fraglose Ergebenheit in dessen Willen. Die früher verfaßte zweite Strophe gewinnt nun den Ton einer vertrauensvollen Zuversicht. Diese Zuversicht wird im Aufgreifen einer uralten und immer wieder neu ausgesprochenen Weisheit gewonnen: In der Mitte zwischen den Extremen liegt die nicht zu erschütternde Zufriedenheit (und nicht etwa bloß das Abfinden) mit den Gegebenheiten beziehungsweise dem Willen Gottes. Diese Haltung wird empfohlen und sollte von jedem Menschen angestrebt werden.
 
Mörike bewegt sich hier im Ideenbereich der Weimarer Klassik. Goethes Gedichte „Alles gaben die Götter“ und „Im Atemholen sind zweierlei Gnaden“ berufen ebenfalls statt des Schicksals göttliche Instanzen als Spender zweier Extreme zwischen denen der Mensch den 'Goldenen Mittelweg' finden muß. Im ersteren klingt nicht zufällig eine Anspielung auf die Klassische Antike mit:
 
                                   Alles gaben Götter die unendlichen
                                   Ihren Lieblingen ganz
                                   Alle Freuden die unendlichen
                                   Alle Schmerzen die unendlichen ganz.
 
Im Divan-Gedicht wird an Systole und Diastole, Ein- und Ausatmen,  als Lebens- und Atemformen des Menschen erinnert:
 
                                   Du danke Gott, wenn er dich preßt,
                                   Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt.
 
Ähnlich formuliert auch Faust Mephisto gegenüber dieses erstrebenswerte Ideal:
 
                                   Da mag denn Schmerz und Genuß,
                                   Gelingen und Verdruß
                                   Mit einander wechseln, wie es kann;
                                    [Mein Ideal: Der „Menschheit“...]
                                   Wohl und Weh auf meinen Busen häufen (v. 1756-1773)
 
Mörike schließt sich direkt dem gleichen antiken Ideal der χρυσ  μέον (Aristoteles), der aurea mediocritas (Horaz, Ovid) an. Die extremen Pole, zwischen denen der Mensch seinen Weg finden muß, sind in jedem Fall Schickungen aus dem göttlichen Bereich.
 
Der oft berufene 'Goldene Mittelweg' bezeichnet keinesfalls Mediokrität, keine Beschränkung auf den kleinste gemeinsamen Nenner, sondern den Königsweg zu einem erfüllten Leben. In diesem Sinn verwendet auch die hochmittelalterliche Klassik das Bild etwa in der ritterlichen Tugendlehre. Durch „zuht“ soll man sich lebenslänglich „diu mâze“ (ausgeglichene Mäßigkeit) in allem erarbeiten, so daß es weder zu unangemessen übertriebenen Glücks- noch Leiderfahrungen kommen kann. Dieses Ideal hat sogar einen sprachlichen Niederschlag gefunden: Man vermied die Extrembezeichnungen und umging sie durch Umschreibungen. Statt gemeintem „nie(mals)“ sagte man „vil selten“, statt „immer“ hieß es „vil dicke“ (sehr oft), „alle“ umschrieb man mit „manige“ (viele).
 
Mörikes schlcihtes „Gebet“ schließt nahtlos an diese großen antiken, mittelalterlichen und klassischen Ideale an. Die einleitende Anrede an den „Herrn“ verwendet die altdeutsche Form „willt“ statt „willst“ und setzt das Adverb „ver-gnügt“ ausschließlich in seiner mittelhochdeutschen Bedeutung „zufrieden“ ein (man be-gnügt sich ganz und gar mit dem, was Gott schickt) – nach der moderneren Wortbedeutung wäre es absurd zu behaupten, man sei über das einem zugeschickte „Leiden“ glücklich oder eben vergnügt. Hier stimmt Mörike mit dem großartigen Barockgedicht „An sich“ zur Magnanimitas  des Paul Fleming aus dem Jahr 1641 an:
 
                        Vergnüge dich an dir
                        […] Sein Unglück und sein Glücke
                        Ist ihm ein jeder selbst.
 
Nicht das Maß des einem zugeteilten Unglückes oder Glückes ist für die Zufriedenheit des Menschen verantwortlich, sondern wie er damit umgeht (nimm den Goldenen Mittelweg zwischen den Extremen und sei mit dir zufrieden).
 
Die Eingangsstrophe ist im gleichmäßig dreihebig alternierenden Metrum  und dem aus den gewohnten Volks(tümlichen)-Liedern

Blick durchs Schlüsselloch der Kirche
 in Wermuthshausen
vertrauten Reimschema a-b-b-a gehalten und repräsentiert damit in aller Schlichtheit die seit dem Mittelalter tradierte Lyrikform. Die Lautung ist unauffällig bezeichnend auf die betonten 'hellen' i- und ei-Silben konzentriert, die jeweils einen dunkleren Vokal (was, oder, vergnügt, Händ-) umrahmen:
schicke, willt, Liebes, Leides, bin, beides, deinen, quillt.
 
Die früher mit ursprünglich anderer Intention entstandene zweite Strophe ist dank ihrer Fünfzeiligkeit weniger harmonisch. Als Reimschema begegnet die seltene Folge c-c-d-d-c. Der dunkle, stets betonte Vokal „o“ ist viermal gesetzt und  dominiert vor allem die auftaktlosen Verse (wóllest und „Dóch“) und damit die gesamte Strophe mit ihren makellosen daktylischen Versen (nach jeder betonten zwei unbetonte Silben), die als ein typisch antikes Metrum hörbar werden.
 
Aus all dem folgt, daß es Mörike in der kleinsten Form gelingt, das gewaltige Thema einer Versöhnung antiker und christlicher Weltanschauung anzudeuten: Dem einleitenden Gebet in teils altdeutscher Sprachform und -bedeutung mit seinen gewohnten alternierenden Dreihebern,  in dem das mittelalterliche Ideal der „mâze“ anklingt, folgt eine Reflexion in antikem Versmaß, die vielfach die alte Lehre von der aurea mediocritas vermittelt.
 
Es gibt eine Zeichnung Mörikes, auf der man durch ein riesiges Schlüsselloch im Vordergrund einen winzigen prangenden Hochaltar im Hintergrund erblickt. Seine dichterische Eigenart, die oft in unscheinbar kleinen Formen Blicke auf große Themen freigibt, ist auch im „Gebet“ unverkennbar und geradezu vollkommen realisiert.
 
 
©  Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021