Das Zicklein

Philomena erzählt (1759)

von Dorothea Renckhoff

Foto © Felix Lichtenfeld

Das Zicklein
 
Philomena erzählt (1759)
 
Die Nelken am Fuß der Pestsäule glühen so rot in der Sonne; das Beet ist verwildert, aber die kleinen Blüten drängen sich noch immer um das steinerne Bild, dicht zwischen das Unkraut gesprengte Blutstropfen, frisch gefallen aus den Händen des Erlösers, den der alte Gott mitsamt dem Kreuz in den Armen hält. Sein Gesicht sieht so traurig aus, als wollte er den Sohn am liebsten wieder zurückziehen aus der Welt unter seinen schützenden Mantel.
Hier, am äußersten Zipfel des Pfarrgartens, zweigt der Weg ab, der durch die Wiesen in den Wald hinauf führt, zum Salzberg, und zu dem Haus am Großen Stein, wo der schöne Vetter wohnte, ehe er das Dorf verlassen hat mit bösem und gekränktem Herzen. Den Weg bin ich oft gegangen, als wir noch Freunde waren, und fast ein Paar; manchmal in großer Angst, aber nie allein, denn immer war mein Zicklein bei mir, bis der Verlorene Tag kam.
     In diesem Haus gab es eine besondere Tür, die führte in einen alten Stollen, und manchmal hörte man dort ein dumpfes Pochen; es hieß, die Berggeister rüttelten von innen an den Schlössern, mit denen der Zugang versperrt war. Doch nicht die Berggeister haben Andreas vertrieben, das hat der einbeinige Fremde getan, der sich Johann Zilwer nannte, und ich habe ihm dabei geholfen. Aber ich verstand damals nicht, was geschah.
     Ich habe auch lange gebraucht, um zu begreifen, daß viele Gebäude in unsrem Dorf Türen oder Fenster haben, die woanders hin führen als zu Gärten und Wegen, See und Bergen. Im Gasthof habe ich nie eine solche Öffnung gefunden, und die Wirtin sprach nicht davon, aber heute bin ich überzeugt, daß es auch dort eine geben muß, und vielleicht liegt sie hinter dem venezianischen Spiegel verborgen, in einem der Räume, wo Johann Zilwer bis zu seinem Verschwinden gewohnt hat. Wenn die Wirtin mir den Zugang verraten hätte, wäre mein Zicklein vielleicht gerettet worden. Doch auch sie hatte wohl Angst, an der Tür des Einbeinigen zu klopfen, ohne gerufen zu sein.
     Am Abend des Verlorenen Tages wehte ein Duft nach Gebratenem durch das Dorf, wie man ihn lange nicht gerochen hatte, und viele aßen zum ersten Mal seit Monaten, vielleicht seit Jahren, wieder Fleisch, aber ohne Freude. Denn von jetzt an mußten wir ohne Milch, ohne Butter und Käse leben. Kühe hatte im Dorf fast keiner mehr, wie sollte man die großen Tiere füttern im Winter, und nun hatten wir am Morgen erfahren, daß ab sofort alle Ziegen verboten waren. Man sollte sie abliefern oder schlachten, um die jungen Stämme im Wald vor ihren Zähnen zu schützen. Denn die Bäume mußten hochauf wachsen, um lange zu brennen in den Feuern unter den Pfannen, sonst war es zu Ende mit den Strömen von Salz, die über den furchtbaren Paß aus dem Tal geschafft wurden.
     Aber ich wollte das Zicklein nicht hergeben. Noch am selben Abend nahm ich es mit zu Koloman, obwohl es mich grauste vor dem alten Fischer und seinen schwarzen Zahnstummeln und vor dem schwachen Geruch, der ihn umgab wie eine unsichtbare Wand. Er öffnete sofort auf mein Klopfen, er lachte so freundlich, als er mich sah, mit seinem schrecklichen Mund, und dann zog er mich und das Tier in großer Hast ins Haus. Mir war, er wüßte, um was ich ihn bitten wollte, und er sagte auch sofort, er werde mein Zicklein mitnehmen, wenn er hinausfahre, früh am Morgen, und es aussetzen am Ende des Sees, aber nicht in den Wiesen, wo es vielleicht gefunden würde, sondern bei dem verfallenen Wirtshaus, ‚zwischen den morschen Wänden wächst kein Halm’ fügte er hinzu, ‚kein Blättchen unter den Bäumen im verlassenen Gastgarten, im Kies der leeren Tanzfläche; da will das Tier nicht bleiben, und es wird den Pfad schon finden, der von dort hinauf führt aus dem Talkessel, zu den vergessenen Almen, zu Gras und Wasser.’
     Noch nie hatte ich einen so langen Satz aus seinem Mund gehört, denn er galt als sonderbar von den vielen einsamen Stunden in seinem Kahn auf dem Wasser. Er fischte immer allein und fuhr noch früher hinaus als die andern, an die abgelegensten Stellen, doch wenn sie ihm folgen wollten, ruderte er eilig fort, und bald stand der Morgennebel zwischen ihm und den übrigen Männern, und wenn sie sein Boot zurückkehren hörten und sein merkwürdiges Lachen im Dunst erklang, noch ehe sie ihn sehen konnten, dann wußten sie schon, daß sein Fischkasten voll war von silbrigen und rosigen Tieren, während sie selbst noch nach den Schwärmen suchten, die er längst an sich gezogen hatte.
     Niemand sah ihn ausfahren am Morgen nach dem Verlorenen Tag, in aller Frühe, mit meinem Zicklein im Boot, und ich glaubte, es sei gerettet. Aber als er zurückkehrte, später als sonst, hörte man ihn nicht lachen, und sein Fischkasten war leer. Doch vor ihm im flachen Bug stand das kleine weiße Geschöpf und hielt Ausschau nach mir.
     Sie kamen direkt zum Steg beim Gasthof, ich sah, wie sie sich näherten, und rannte hinunter; Koloman hob mir mein Zicklein entgegen, ‚ich habe es nicht an Land schaffen können,’ sagte er, ‚es schrie und strampelte und hat das Boot nicht verlassen wollen, und eine Kraft ist ihm zugewachsen wie von fünf starken Ochsen. Es hat zu dir zurück gewollt, ich kann nicht helfen’, und seine Ruderschläge waren müde, als er davon fuhr.
Da lief ich in großer Angst mit dem Zicklein zur Pestsäule hinüber und den Weg zum Salzberg hinauf, und zu dem Haus am Felsen, wo der schöne Vetter das Tier vielleicht verbergen konnte.
     Er empfing mich freudig und versprach, alles zu tun, was ich wollte, mir zu Liebe, obwohl seit dem Verlorenen Tag schwere Strafen für den Besitz nur einer einzigen Ziege angedroht waren, hohe Geldbußen, Kerkerhaft und Stockschläge. Aber er holte sofort frische Kräuter von draußen für das kleine Tier und machte ihm ein Lager mit einer Decke von seinem eigenen Bett, und es war zutraulich gegen ihn, es kannte ihn ja als meinen Freund, und wir spielten mit ihm, aber nicht lange, denn ich mußte zurück in den Gasthof, damit die Wirtin nicht mißtrauisch wurde. Andreas küßte mich zum Abschied, und ich ließ es gerne zu. Ich war ihm so dankbar, und mit leichtem Herzen lief ich den Weg hinunter ins Dorf zurück.
     Aber schon in der Nacht fiel die Last in meine Brust zurück. In meinem Zimmer hörte ich von draußen leises Rufen, und dann sah ich den schönen Vetter mit dem Tier unter meinem Fenster stehen. Ich stürzte zu ihnen hinunter, und das Zicklein drückte sich an meine Beine, und er an meine Brust. Das kleine Geschöpf war unruhig geworden, als die Dämmerung kam, es war immer heftiger mit den winzigen Hörnern gegen die Haustür angerannt und hatte klagende Töne dabei ausgestoßen, und schließlich, als es nur noch schrie, hatte Andreas einsehen müssen, daß er es am nächsten Tag nicht allein im Haus würde lassen können, wenn er zu seiner Arbeit in den Stollen mußte. Keiner von uns wußte, was tun, und das Zicklein drückte sich gegen meine Beine, und er an meine Brust, aber ich nahm nur das Tier mit zu mir in das Zimmer hinauf, und der schöne Vetter ging traurig zum Salzberg davon.
     Ich saß den Rest der Nacht in meinem Bett, mit dem Rücken an mein großes Kissen gelehnt, und das Zicklein schlief in meinem Arm. Ich wußte keinen Ausweg und auch niemanden mehr, den ich um Hilfe hätte bitten können. Keiner im Dorf war noch klug genug und mutig genug, jetzt, nachdem es weder Andreas noch Koloman gelungen war, meinen Liebling vor dem Tod zu verbergen, dem es so eigensinnig zustrebte. Einen Augenblick dachte ich an die Wirtin, aber sie mußte fürchten, daß man ihr den Gasthof schloß, wenn sie das strenge Verbot mißachtete; zu viele Neider lauerten schon lange darauf, an ihrer Stelle die schöne Wirtschaft zu übernehmen.
     Ich saß, und die Augen brannten mir, als ich im Geist noch einmal jeden Einzelnen aus dem Dorf vor mir erscheinen ließ und auswischen mußte. Doch dann schob sich eine Gestalt hinter den anderen hervor, immer deutlicher, immer näher, und schließlich unabweisbar. Johann Zilwer hatte mehr erlebt als jeder andere, er kannte Listen und geheime Wege, sein Gold machte ihn unangreifbar. Er konnte mir helfen, als einziger. Ich glaubte, seine wunderbare Stimme zu hören und wußte, daß er mir mein Zicklein retten würde. Während es draußen hell wurde, schlief ich ein, erleichtert und voll Zuversicht.
     Ich hatte an seiner Tür klopfen wollen, um ihn in seinen Zimmern zu sprechen, ohne andere Zeugen als die dunkle Fremde, aber als ich wieder erwachte, hörte ich schon die harten Stöße seiner Krücke auf der Treppe. Ich lief ihm nach, so rasch ich konnte, das Zicklein sprang vor mir her, aber er war uns zu weit voraus, ich konnte ihn nicht aufhalten, und dann sah ich schon die Wirtin erscheinen, sie starrte uns an, ihr Gesicht wurde so rot wie die Pfingstrose in meinem Sonnwendstrauß, es war, als könne sie nicht atmen, aber dann brachte sie ein paar Worte heraus, stammelnd, und ich verstand, daß Männer kämen, um die Häuser nach verbotenen Ziegen zu durchsuchen und die Übeltäter zu bestrafen. Das Zicklein meckerte.
     Der Einbeinige stand ganz ruhig am Fuß der Treppe. Ich schaute ihn an mit all meinem Flehen im Blick, und er lächelte mir zu, ‚keine Angst’ sagte er mit seiner Stimme aus Seide und Samt, und ich war getröstet. Ich weiß nicht, woher er das Messer nahm, aber es glitt in seine Hand wie ein abgetrennter Finger an seine natürliche Stelle, und er stieß damit zu, als sei es ein Teil von ihm und als spüre er in der metallenen Spitze den Schmerz des Wesens, das er stach, und das Zucken des Fleischs, in das er schnitt. Aber das Wesen war mein Zicklein, und ich sah das Blut auf seinem weißen Fell.
     Der Einbeinige wies die Wirtin an, es rasch in die Küche zu tragen und die Innereien herauszuschneiden, er werde den Kontrolleuren sagen, daß er die frische Leber auf heute für seinen Tisch bestellt und das Stück Vieh daher erst jetzt geschlachtet habe, und die Wirtin warf sich vor ihm nieder und küßte ihm den Ärmel, und dann verschwand sie mit meinem Zicklein in der Küche.
     Nur wenige Augenblicke später tauchten die Männer im Eingang auf, und Zilwer sagte ihnen genau das, was er vorgeschlagen hatte. Sie gaben sich damit zufrieden, erst recht, als er sie auf ein Glas Wein in die Gaststube einlud.
     Aber bevor sie erschienen, wandte er sich zu mir um und sah mich an, und in seinen Augen war wieder dieses Schillern wie von Glasscherben. Ich stand noch auf der Treppe, ans Geländer geklammert, und er winkte mir, ich solle herunterkommen. Ich gehorchte, ich war im Innern wie erstarrt. Er strich mir mit seiner befleckten Hand über die Wange, und ich fuhr nicht einmal zurück. ’Es ist deine Schuld’, sagte er mit seiner wunderbaren Stimme.      ‚Zuckerstückchen, Rosenblätter, Küsse. Das ist nichts für Ziegen. Laß dir einen Holzebock machen und häng ihm Blumenkränze um. Sie haben doch so gute Zimmerleute im Salzberg. Und baut dein schöner Vetter nicht Uhren und sogar Musikinstrumente?’ und er lachte mir zu, als seien wir die besten Freunde. Dann griff er nach meinem Rock und fing an, das Blut damit von seiner Hand zu wischen, als wolle er mich beteiligen an dem, was er getan hatte.
 
 
© Dorothea Renckhoff