Eine schmerzliche, große, erkenntnisreiche Geschichte

„Martin Eden“ von Pietro Marcello

von Renate Wagner

Martin Eden
Italien 2019

Regie: Pietro Marcello
Mit: Luca Marinelli, Jessica Cressy, Carlo Cecchi u.a.
 
Wer „Jack London“ sagt, denkt an „Wolfsblut“ oder „Ruf der Wildnis“. Alle seine Bücher basieren auf seinen persönlichen Erfahrungen, aber wenige so sehr wie der Roman „Martin Eden“, den der damals 33jährige im Jahr 1909 herausbrachte und der, schlicht formuliert, davon handelt: „Und da beschloß ich, Schriftsteller zu werden.“
„Martin Eden“ ist schon öfter verfilmt worden, aber die erste Verwunderung angesichts der neuesten Version besteht darin, daß ein italienischer Regisseur die Handlung (die sich an sich rund um Jack Londons heimatliches San Francisco abspielt) nach Italien verlegt hat. Das gibt dem Werk einen völlig anderen Charakter, wenn es auch die Geschichte dieses jungen Mannes und seines brennenden Aufstiegswillens erzählt. Mit allen Facetten – dem künstlerischen (Schriftsteller werden), psychologischen (die Frauen) und sozialen (Zugehörigkeit zur Welt der Reichen).
 
Gedreht in Neapel, Zeit: frühes 20. Jahrhundert, ist Martin (Luca Marinelli – eindrucksvoll zwischen den Ebenen Herz, Bauch und Kopf) ein einfacher Fischer, der von zuhause her – Schwester, Schwager – durchaus die Qualitäten des schlichten, braven Lebens vorgezeigt bekommt. Aber als er einen jungen Mann (Giustiniano Alpi) bei einer Auseinandersetzung am Hafen beisteht, dankbar in die noble Famille aufgenommen wird und durch Elena Orisini (Jessica Cressy) die Verlockung einer anderen, glanzvollen Welt kennen lernt, sucht er den Weg über die Literatur – Künstler haben Zutritt zu Kreisen, die dem „ordinären Volk“ auf jeden Fall versagt werden.
Zu Beginn sieht Martin interessiert und begierig in die neue Welt, in die er eintritt (und wo er bleiben will), mit der schwer erarbeiteten Mutation zum Schriftsteller zieht die Unruhe in ihn ein, und letztlich sieht man ihm erschüttert dabei zu, wie er verkommt. Denn wer lernt zu denken, zu durchschauen, zu urteilen, kann in den Abgrund der Verzweiflung stürzen über die Welt, wie sie ist.
Und die soziale Frage, die bei Jack London immer virulent ist, spielt eine große Rolle. Aber nein – Martin Eden geht es um Aufstieg, dafür wird er sich nicht gegen das Establishment stellen, auch wenn es sein Gewissen zerreißt.
Es ist eine in Milieu und auch sozial-politischem Hintergrund durch und durch italienische Welt, die Regisseur Pietro Marcello auf die Leinwand malt. Er fügt (besonders zur Arbeiter-Frage) schwarzweißes Dokumentarmaterial ein und erinnert damit – neben den bunten Bildern der Geschichte selbst – an die neorealistische Tradition des italienischen Films.
Auch in eine andere Welt versetzt, bleibt „Martin Eden“ eine schmerzliche, große, erkenntnisreiche Geschichte.
 
 
Renate Wagner