Gänsehautmusik!

Iveta Apkalna „Triptychon – Klais/Schuke Orgel der Konzertkirche Neubrandenburg“

von Johannes Vesper

Iveta Apkalna
mit einem Orgeltriptychon
 
Petēris Vasks - Johann Sebastian Bach - Franz Liszt
 
Iveta Apkalna ist auf der Welt bekannt, hat sie doch mit den Berliner Philharmonikern, dem Royal Concertgebow Orchestra in Amsterdam, mit dem Los Angelos Philharmonic Orchestra u.v.a. zusammengespielt. Sie hat nicht nur beim Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie 2017 in Hamburg als Titularorganistin gespielt, sondern 2018 auch die Klais-Orgel im Kaohsiung Center for the Arts (Taiwan) eingeweiht. Auf beiden Orgeln wurden erstmals von ihr Soloprogramme für CD aufgenommen. Die 2017 fertiggestellte Orgel der Konzertkirche zu Neubrandenburg hat sie gar zusammen mit den Orgelbauern Klais und Schuke entwickelt, bevor jetzt dank ihrer Aufnahmen erstmalig auch diese Orgel auf CD zu hören ist. Der Stifter dieser Orgel, Günter Weber, hat mit dem Bau dieser Orgel die unglückliche Baugeschichte der ehemaligen Marienkirche zu glücklichem Ende gebracht. Wenige Jahrzehnte nach der Stadtgründung 1248 wurde mit ihrem Bau begonnen. Der Ostgiebel ist gleich ein erster Höhepunkt der Backsteingotik. Teilweise zerstört beim Stadtbrand 1676, wurde sie im 19. Jahrhundert erstmalig wiederhergestellt. Nach dem Brand am 29. April 1945 war das Gewölbe eingestürzt, nur die Außenmauern inklusive des Ostgiebels blieben erhalten. Endlich wurde die Kirche nach dem Entwurf des finnischen Architekten Pekka Salminen zu einem Konzertsaal wiederaufgebaut und 2001 eingeweiht. Iveta Apkalna ist seit 2019 „Artist in Residence“ der Konzertkirche Neubrandenburg, die ihrem Publikum seit 20 Jahren „akustische und visuelle Erlebnisse“ (Salminen) bereitet, in einem Konzertsaal mit glasklarer Akustik in Mauern alter Backsteingotik. Hier entstand jetzt dieses Album.
 
Drei CD bilden dieses Triptychon. Auf der ersten ist Musik des lettischen Komponisten und im Baltikum sehr geschätzten Petēris Vasks (* 1946) zu hören, die die ebenfalls aus Lettland stammende Organistin wie folgt kommentiert: „In seiner Musik höre ich die Landschaft Lettlands , den weiten Horizont unseres flachen Landes, die Wiesen und Wälder, Vogelstimmen und das Meer“. Für den Komponisten sei „die Natur die eigentliche Religion“. Während sein „Hymnus“, den er eigens für die Organistin geschrieben hat, den Frühling thematisiert, betrifft „Baltā ainava“ (Weiße Landschaft“), den Winter, dessen Stimmung die Organistin im langen Kleid an den herben und verschneiten Stränden der Ostsee auch auf den Fotos im Album nachspürt. Im Orgelstück, notiert ohne Taktstriche, wechseln stille Impressionen ohne fixe rhythmische Kontur, ohne dramatische Dynamik und musikalische Entwicklung. Gelegentlich bietet ein Orgelpunkt Orientierung. Das 3. Stück (Musica seria) schrieb er „am Ende der 1980er Jahre, als die baltischen Staaten ihren Kampf um die Unabhängigkeit begannen. Mit dem abwärts dringenden Einleitungsmotiv wollte ich ein Porträt unserer zerrissenen Planeten schaffen, das Böse und die Kraft der Vernichtung charakterisieren“ teilt der Komponist im Beiheft mit. Das bedeutende Orgelwerk wird auf der großen Konzertorgel mit allen ihren Möglichkeiten eindrucksvoll inszeniert. Gänsehautmusik!
 
Den Mittelteil des Orgeltriptychons bilden Werke von Johann Sebastian Bach (1685-1750): Toccata, Adagio und Fuge in C-Dur (BWV 564), die Triosonate BWV 527 und die 6 Schübler-Choräle (BWV 645-650). Auffällig an dieser Bachschen Toccata in C-Dur ist das eingeschobene Adagio, welches später in der Bearbeitung von Pablo Casals für Violoncello und Klavier eine weite Verbreitung fand. Herrliche Musik, von der Goethe zurecht gesagt hat: „als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich´s etwa in Gottes Busen kurz vor der Weltschöpfung möchte zugetragen haben“.
Reines Vergnügen bietet auch die Triosonate mit synkopisch eingestreuten 32stel Phrasen, Sechzehntel-Triolen, Überbindungen, ruhig aufsteigender Basschromatik im 1. Satz. Solch komplexe musikalische Strukturen werden im 6/8 Siciliano des 2. Satzes mit gesanglichem Thema versöhnlich angereichert. Konzertant und flink spult sich der Schlußsatz (Vivace im Dreiertakt) ab.
Dann die sechs Choräle verschiedener Art BWV 45-650, verfertigt vom „Königl. Polnischen und Churf. Sächß. Hof-Compositeur“ Bach, wie es auf dem Titelblatt des 1748 erschienen Drucks heißt. Die Sammlung ist benannt nach dem Verleger Johann Georg Schübler. Es handelt sich dabei um Konzertstücke, die zur Begleitung des Gemeindegesangs im Gottesdienst nicht taugen. Arrangiert aus Kantaten für die Orgel, finden sich in dieser Sammlung bekannte Choräle, z.B. „Wachet auf ruft uns die Stimme“, „Wer nur den lieben Gott läßt walten“ oder die Melodie von „Lobe den Herrn, den mächtige König“. Insgesamt sind diese „Choräle“ tröstliche Werke des reifen Bachs, aus einer Zeit, in der man sich zu Leipzig wegen seiner angeschlagenen Gesundheit schon Gedanken über seine Nachfolge als Thomaskantor glaubte machen zu sollen.
 
Auf der 3. Tafel des Triptychons kommt Franz Liszt (1811-1886) zu Gehör, und zwar mit Werken, die er im Zusammenhang mit Orgelneubauten komponiert hat. Erhaben beginnt das B-A-C-H Präludium mit dem berühmten Viertonmotiv aus zwei absteigenden Halbtonschritten. Nach nachdenklichem Ende beginnt im Pianissimo aus der Tiefe heraus die freie fast rhapsodisch-drängende Fuge. Für die Einweihung der neuen Orgel des Merseburger Domes 1855 hatte Liszt dieses Stück komponieren wollen, war aber nicht rechtzeitig fertig geworden, sodaß dort seine Fantasie und Fuge über den Choral „Ad nos , ad salutarem undam gespielt wurde. Das ehemals sehr populäre Thema stammt aus der Oper „Die Propheten“ von Giacomo Meyerbeer, an deren Welterfolg er vielleicht glaubte anknüpfen zu können. Rollschuhballett des Opernchores, erstmals elektrische Bühnenbeleuchtung bei der Uraufführung der Oper am 16. April 1849 in Paris führten dazu, daß sie innerhalb von drei Jahren in 50 Städten der Welt aufgeführt wurde: von New Orleans, über New York bis nach St. Petersburg. In dieser Lisztsche Orgelsonate, seinem ersten und längsten Orgelwerk, wird virtuos und effektvoll aus der Oper paraphrasiert. Über 32 Minuten wird hier unter den Händen und Füßen der Organistin alles geboten, was die herrliche Konzertorgel aus Neubrandenburg zu bieten hat. Eingeschoben als Nr. 2 auf dieser CD erklingt „Nun danket alle Gott“. Der Choral wurde komponiert für die Einweihung der großen Walcker-Orgel (124 Register!) im Dom zu Riga 1884. Franz Liszt spielte damals selbst und als 19-jährige gab Iveta Apkalna auf dieser Orgel ihr Solo Debüt. Aus mehrerlei Gründen also ein sehr persönliches Album. Beiheft mit Hinweisen zu den Orgelwerken (Deutsch und Englisch) und Fakten zur Konzertorgel Neubrandenburg.
 
Kurz zur Konzertorgel in Neubrandenburg: 70 Register, 2852 Pfeifen (inkl. 351 Holzpfeifen. Größte Pfeife (C des Principalbasses) 6,7 m lang Durchmesser 30 cm. Die kleinste Pfeife ist 8 mm lang, Durchmesser 3,5 mm. Zwei Spieltische mit je 4 Manualen. Gesamtgewicht der Orgel 21 Tonnen. Spieltraktur für den fest eingebauten Spieltisch mechanisch und elektrisch, für den zweiten mobilen Spieltisches elektrisch. Für beide Spieltische gemeinsame Setzeranlage mit über 100.000 Kombinationen. USB-Schnittstelle. Erbauer: Orgelbauwerkstätten Klais (Bonn) und Schuke (Berlin). Baujahr 2017. Die Orgel wurde gespendet vom Mäzen Günter Weber aus Neubrandenburg,
 
Iveta Apkalna „Triptychon – Klais/Schuke Orgel der Konzertkirche Neubrandenburg
© 2021 Berlin Classics, Erscheinungstermin 27.08.21
CD 1 Petēris Vasks (*1946): 01 Hymnus, 02 Baltā ainava, 03 Musica seria.
CD 2 Johann Sebastian Bach (1685-1750): 01 Toccata, 02 Adagio, 03 Fuge BWV 564. Triosonate BWV 646 4 Andante, 05 Adagio e dolce, 06 Vivace.
CD 3 Franz Liszt (1811-86): Präludium und Fuge über den Namen B-A-C-H (S.260): 01 Präludium 02 Fuge, 03 Nun danket alle Gott (S61). Fantasie und Fuge über den Choral „Ad nos, ad salutarem undam“(S 259), 04 Fantasie, 05 Fuge. TT 54`23.

Weitere Informationen: www.berlin-classics-music.com  und  www.apkalna.com
 
Hinweis: Am 29.08.2021 um 18:00 Uhr wird Iveta Apkalna den 1. Orgelakzent an der renovierten Sauerorgel der Historischen Stadthalle Wuppertaler bestreiten: Unter anderen Werken zeitgenössischer baltischer Komponisten werden „Hymnus“ und „Musica seria“ von Petēris Vasks zu hören sein.
 
Mehr über Iveta Apkalna lesen Sie → → → hier !