Jeder hat sein Päckchen

(Sonntagmorgen IV)

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker
Jeder hat sein Päckchen

Sonntagmorgen IV

Am Stehtisch der Bäckerei steht bereits ein Kunde mit einem Becher Kaffee und der Sonntagszeitung, in der er blättert. Auch ich kaufe sie, werde sie der Oma bringen. Sie  unterläßt es nie, bissige Bemerkungen über das nichtssagende Geschwätz in der Zeitung zu machen, aber das ist nur ihre offizielle Haltung. Viel deutlicher wird nachher ihr gieriger Blick auf meine Hände verraten, wie sehr sie auf die Sonntagszeitung gewartet hat. Mich wird es freuen, sie mitgebracht zu haben.
 
Der Kunde am Stehtisch räumt mir bereitwillig einen Platz neben sich ein. Wir beobachten beide einen Endsechziger, der schlurfend hereinkommt. Ein Arm hängt schlaff herab. Er muß einen Schlaganfall gehabt haben. Als er wieder gegangen ist, sagt die Bäckerin:  „Ein armer Kerl. Ich sehe ihn schon die ganzen Jahre so. Das wird nichts mehr. Der hat sein Päckchen zu tragen.“
 
„Aber manche haben es besonders schwer“, sagt mein Nebenmann düster.
 
„Seine Frau ist auch krank. Sie ist dement“, sagt die Bäckerin.
 
„Sie haben keine Ahnung, wie es meiner Tante geht. Ich gehe ständig zu ihr. Die Ärzte haben kaum Hoffnung“, setzt meinen Nebenmann dagegen.
 
Aber Schlaganfall müsse die ganzen Einkäufe die Treppen hoch schleppen, klagt die Bäckerin.
 
„Aber mein Neffe erst“, sagt mein Nebenmann. „Die Sorge erdrückt mich. Er ist raucht wie besessen. In diesem jugendlichen Alter!“
 
Der Schlaganfall klage auch über den künstlichen Blasenausgang, er schmerze.
 
„Glauben Sie nur, ich weiß, was Schmerzen sind“, sagt mein Nebenmann. „Wenn Sie mein Knie von innen sehen könnten! Da würden Ihnen die Augen übergehen.“
 
„Und jetzt soll der  arme Mann ein paar Tausend Euro Erschließungskosten an die Stadt zahlen. Nach dreiundzwanzig Jahren. Wo soll er denn das Geld hernehmen?“ fügt die Bäckerin hinzu.
 
„Da sagen Sie etwas!“ sagt mein Nebenmann. „Genau da liegt das Problem. Bei uns ist der Abfluß in der Küche verstopft. Können Sie mir sagen, woher ich das Geld nehmen soll, falls ich eines Tages den Rohr-Reinigungsdienst kommen lassen muß?“
 
Er schaut die Bäckerin und mich herausfordernd an. Sie und ich blicken einander im schweigenden Einverständnis an. Dieser Mann hat es schwer. Man darf ihm nichts zumuten. Er verdient Respekt, wie er seine Bürde trägt.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008