Abend mit Beleuchtung

Erzählung

von Eugen Egner

Foto © Frank Becker
Abend mit Beleuchtung
 
„Moment mal“, sage ich, „gerade eben war es doch noch hell.“ Die Psychologin hebt kurz die Augen von ihren Notizen. „Es ist Abend“, erwidert sie ohne jede Emotion. Wahrscheinlich notiert sie dann: ‚Zeigt sich erstaunt über das Vergehen der Zeit.’ Ich spreche mehrmals ungläubig das Wort „Abend“ aus, dabei nähere ich mich dem Fenster, um in die Dunkelheit hinauszusehen. Sofort fällt mir etwas auf. „In der Hecke wohnt wieder jemand“, merke ich an. „Woher wollen Sie das wissen?“ fragt die Psychologin. „Da ist Licht“, sage ich wahrheitsgemäß, denn in der Hecke ist nach langer Zeit wirklich wieder Licht. Nicht sehr hell, aber doch so, daß man dabei lesen könnte. „Wieviel Watt?“ will die Psychologin wissen. Das ist beileibe keine leichte Frage. Daher frage ich zurück: „Sind mehrere Antworten möglich?“  ­– „Nein.“
Weh mir! 40 Watt? 60 Watt? 25 Watt? Fieberhaft arbeitet mein durch übermäßigen Streß bereits erheblich geschrumpftes und immer weiter schrumpfendes Hirn, kommt aber zu keinem wünschenswerten Ergebnis. Im Gegenteil: Das fieberhafte Arbeiten verzehrt nur noch mehr zerebrale Substanz. Wenn ich so weitermache, werde ich in wenigen Minuten vollkommen schwachsinnig sein! Was tun in so einer Lage? Ich muß sofort aufhören zu grübeln und jemanden anrufen, der mir helfen kann. Aber wer sollte das sein? Wen kenne ich, wen hätte ich je gekannt? Mir fällt nur die Firma ein, bei der ich vor langer Zeit einmal gearbeitet habe. Doch da wird sicher niemand mehr sein, der sich an mich erinnert, außerdem ist es schon Abend. Wegen der hereindrängenden Dunkelheit kann ich obendrein die Buchstaben und Zahlen im Telephonbuch nicht lesen. Man müßte Licht haben, eine Glühbirne zum Leuchten bringen, wie die neuen Bewohner der Hecke es tun. Wahrscheinlich ist es eine 40er Birne. Aber da kann man sich leicht täuschen, besonders auf eine solche Entfernung. Also vielleicht eher 60 Watt? Oder wäre das schon zu hell zum Lesen? Bevor ich zu raten anfange, sage ich lieber gar nichts. Ich nehme an, die Psychologin notiert: ‚Kann die Wattzahl nicht angeben.’ Vielleicht notiert sie aber nichts, denn es ist ja ziemlich dunkel im Zimmer. „Wissen Sie wenigstens, wer in der Hecke wohnt?“ höre ich sie dann fragen. 
„Vielleicht“, überlege ich laut, „vielleicht diejenigen, die nachts immer auf dem Dach herumgerannt sind? “ – „Falsch.“ Falsch. Was auch sonst? Ich bin es leid. Ich will keine Fragen mehr beantworten. Den lieben langen Tag geht das schon so: „Wer hat den Kindern die Förmchen abgekauft? Was wird morgen installiert? Wie geht das Testament? Wann hat man Püppchen im Gesicht?“ – Schluß damit! Ich will an etwas anderes denken. Mich reizt die Vorstellung, jemand ziehe los, um Glühbirnen zu besorgen. Welche unerhörten Abenteuer würde eine solche Person dabei erleben! Einfälle in großer Zahl stürmen ungeordnet auf mich ein. Man müßte das alles festhalten und später ausarbeiten. Es scheint mir in diesem Augenblick möglich, den großen deutschen Glühbirnen-Roman zu schreiben, was jedoch geeignete Lichtverhältnisse voraussetzt. Daher nehme ich der Psychologin das Schreibzeug weg und laufe hinüber zu den Leuten in der Hecke.


© Eugen Egner