Das Chanson und der Bourgeois
Von Peter Paul Althaus
Was wir heute unter „Chanson“ verstehen, das war - das war seinerzeit eng mit dem Begriff »Frou-frou« verbunden. Man muß schon über 60 Jahre alt sein, um zu wissen, was »Frou-frou« ist. Frou ist das Rauschen rüschenraschelnder seidener Jupons. Jupons sind Unterröcke. »Frou-frou« ist Chambre separée, sind die ersten Anfänge von Montmartre in den neunziger Iahren des vorigen Iahrhunderts und einiges anderes Französische. Damals sang man in den Parlottes am Place du Tertre oder am Place Clichy die ersten Chansons. Dichter, die rein aus der Laune ihre Gedichte vortrugen, begleitet am verstimmten Klavier aus dem Stegreif von einem Musiker und dargeboten den zufällig anwesenden Gästen. Etwas später kam das deutsche Chanson.
(...) Wenn heute Wedekind zur Laute singen würde: »Ich habe meine Tante geschlachtet/ Meine Tante war alt und schwach..«/ oder wenn heute Ludwig Scharf, einen Stuhl nach sich ziehend, auf das Kabarettpodium hinken und die Leute anbrüllen würde: »Ich bin ein Prolet!«, dann würden die Leute sagen: »Ja, und?« Es gibt heute keine Bürger mehr, wenigstens keine Bürger, mit denen man »Epater les bourgeois« spielen kann. Die Bürger haben in den letzten zwanzig Jahren soviel über sich ergehen lassen, daß man sie so leicht nicht erschrecken kann. Zu mindestens nicht mit einem Chanson. Das Chanson hat seine Zeit gehabt. Und die Zeit hat ihr Chanson gehabt. Die heutige Zeit hat Dali, Picasso, Sartre und Brecht. Und die spielen »Épater les snobs«.
Aus: „Poesie und Prosa“, hrsg. von Hans Althaus – Allitera Verlag, edition monacensia 2014
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