Ein Kammerspiel, spannender als mancher Thriller

„Wer wir sind und wer wir waren“ von William Nicholson

von Renate Wagner

Wer wir sind und wer wir waren
(Hope Gap) - GB  2019

Drehbuch und Regie: William Nicholson
Mit: Annette Bening, Bill Nighy, Josh O’Connor u.a.
 
Ein nicht mehr junges Ehepaar, immerhin sind sie, wie man erfährt, 29 Jahre verheiratet. Sie wohnen in einem sehr schönen Haus bei den weißen Klippen von Dover, nahe am Meer. Edward ist Geschichtsprofessor und vergräbt sich in die Grausamkeiten des Rückzugs der Napoleonischen Armee aus Russland. Grace ist Fachfrau für Gedichte und fordert den Gatten immer wieder zu intellektuellen Diskussionen heraus. Mehr noch – sie mag seine ruhige, stille Verschlossenheit nicht, sie möchte ihn aus seiner Ruhe bringen, über die Beziehung reden, möchte Geständnisse seiner Gefühle – alles, was er aus seinem Wesen heraus nicht geben kann.
Was man ihm allerdings nicht zutrauen würde: Eines Tages geht er. Er hat einen Menschen gefunden, der ihm nicht dauernd das Gefühl gibt, an etwas schuld zu sein oder den provokant an ihn gestellten Anforderungen nicht zu entsprechen. Also nimmt er seinen Koffer und fährt weg. Läßt eine fassungslose Frau zurück und Jamie, einen Sohn im Studentenalter, der intelligent genug ist, sich nicht zwischen den Eltern zerreiben zu lassen, aber sensibel genug, um mit beiden zu leiden.
 
In der Folge ist es vor allem die Geschichte der Frau, von Grace, die schlechtweg fassungslos ist, was ihr da passiert, und die keinesfalls bereit ist, auch nur einen Schritt nachzugeben. Sie stalkt Edward, sie verhindert seine Versuche, sich scheiden zu lassen, sie konfrontiert sich mit seiner neuen Gefährtin – fassungslos angesichts von deren Stille und Farblosigkeit.
William Nicholson ist in erster Linie Schriftsteller, Romanautor historischer Zyklen, aber auch sehr begabter Drehbuchautor (darunter „Gladiator“), „Hope Gap“ hat er selbst geschrieben und erstmals (immerhin im Alter von 70 Jahren) selbst inszeniert. Es geht um zwei Menschen, die beide durchaus ihre Qualitäten haben, aber zutiefst nicht zusammen passen. Nicht mehr und nicht weniger – aber sehr, sehr spannend.
Es ist ein Film, als dessen Protagonisten man sich wahrscheinlich Emma Thompson und Anthony Hopkins vorgestellt hätte (Hopkins spielte in „Shadowlands“ nach einem Drehbuch von Nicholson). Die Besetzung besteht allerdings aus der Amerikanerin Annette Bening, die (in der Originalfassung) gut die hohe Anforderung meistert, wie eine Engländerin zu klingen. Neben ihr Bill Nighty, britisch bis in die diskreten Fingerspitzen.
 
Wunderbar, wie man von Anfang an weiß, daß es zwischen ihnen nicht gut gehen kann. Ihre fortwährende Unruhe, seine stille In-Sich-Gezogenheit. Ihre egoistische Unfähigkeit, sich auch nur im geringsten auf ein Gegenüber einzulassen, ihre stete Forderung nach Aufmerksamkeit, ohne die sie sich nicht lebendig fühlt. Seine evidente Angst vor Menschen. Das prickelt auf der Leinwand.
Viel mehr Menschen gibt es in der Geschichte so gut wie nicht, ein Sohn, der nicht unter die Räder der Mutter geraten will (Josh O’Connor), am Rande Freunde des Jungen, am Ende sekundenlang jene unscheinbare Angela (Sally Rogers), die Edward spät, aber gerade noch rechtzeitig nach einer erstickenden Beziehung glücklich gemacht hat.
Das ist ein hochkarätiges Kammerspiel, das sensible Kinobesucher spannender finden könnten als manchen Thriller.
 
 
Renate Wagner