Kühn und zart

Jan Lisiecki mit einem großen Klavierabend im Anneliese-Brost-Zentrum zu Bochum

von Johannes Vesper

Jan Lisiecki, Bochum 10.07.2021 Foto © Peter Wieler

Kühn und zart
 
Jan Lisiecki im Anneliese-Brost-Zentrum zu Bochum
 
Fulminant begann beim Klavierfestival Ruhr der Sommer 2021. Am 28.06. Igor Levit und am 06.07. Claire Huangci in Wuppertal, am 08.7. Grigory Sokolov in Essen und am 10.07 Jan Lisiecki im Anneliese Brost Musikforum zu Bochum. Er ist dankenswerterweise kurzfristig für den erkrankten Leif Ove Andsnes eingesprungen. Der 26jährige Kanadier mit polnischen Wurzeln ist in der Klavierszene bekannt. Als 16jähriger wurde er von der Deutschen Grammophon unter Vertrag genommen, mit den großen Orchestern (u.a. New Yorker Philharmoniker, Boston Symphony, Orchester des Bayrischen Rundfunks) hat er schon gespielt und kürzlich das Schleswig-Holstein Musik Festival eröffnet. Seit seinem Debüt 2015 spielt er heute zum 11. Mal beim Klavierfestival Ruhr.
 
Fulminant begann dieser Pianist auch seinen Klavierabend in Bochum mit der „Wut über den verlorenen Groschen“ (op. 129) von Ludwig van Beethoven (1770-1827). In atemberaubender Geschwindigkeit und mit ungeheurem Temperament („Rondo ingharese quasi un capriccio“) und rhythmischer Intensität brauste das hochvirtuose Jugendwerk vorüber und das Publikum fragte sich, was darauf noch folgen könnte.
Es folgte von Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) das Rondo Capriccioso op. 14, zunächst als Etüde entstanden, zwei Jahre später (1830) mit Einleitung versehen und noch mal für die schöne damals 17jährige Pianistin Delphine von Schauroth überarbeitet, in die er sich verliebt hatte und „die ihm hätte gefährlich werden können“. Hier wechseln Sommernachtträume mit Pathos und glockenartigem Orgelpunkt, alles andere als hohle Etüdenvirtuosität. Mit donnernden Oktavparallelen geht das spielerische presto leggiero zu Ende und Felix reiste ab nach Italien. Vielleicht war es doch nicht so ernst.
 
Dann ein erster Höhepunkt des Abends: die Nocturnes op. 9 (1830/31) in b-moll und Es-Dur von Frederic Chopin (1810-1849). Frei und seelenvoll wie ein Hauch entsteht in Nr. 1 die Melodie zunächst ohne Begleitung durch die später so charakteristischen, ruhigen, weiten Arpeggien der linken Hand. Im 6/4 Takt wird mit Triolen umspielt, variiert, transponiert (vor allem im B-Teil) bei agogisch-lebendigem Herzschlag der linken Hand. Nach erneutem A-Teil mit großen Intervallsprüngen aus der Tiefe in hohe Höhen leitet die abfallende Terzkette zu den Schlußakkorden. Bei der Nr. 2 beginnt mit zart aufsteigender Sexte die expressiv-lyrische Kantilene im Dreiertakt. Zuletzt gibt es gar eine kleine Kadenz. Der Fan italienischer Opern, der Chopin war, scheint italienischen Belcanto aufs Klavier zu übertragen und es tatsächlich singen zu lassen, was unter den Händen Jan Lisieckis wunderbar gelingt. Im Portato belebt er einzelne Töne durch angedeutetes Vorschieben der Anschlaghand mit individuellem Nachdruck. Lange läßt Jan Lisiecki den Schlußton verklingen. Spiegeln vielleicht diese elegischen wie nachdenklichen Klavierstücke aus der Zeit des Abschieds aus Warschau seine damalige Stimmung? Revolution dort, Erfolglosigkeit in Wien, Übersiedlung nach Paris, all das mußte verkraftet werden. Chopins nocturne ist kein notturno des 18. Jahrhundert mehr, welches als lockeres Ständchen in freier Besetzung oft zur Aufführung im Freien gedacht war. John Field übernahm die Bezeichnung erstmals für seine Klavierstücke. Nach Schuberts Impromptus und Moments Musicaux waren es Chopins lyrisch elegische Charakterstücke für Klavier mit ausgeprägter freier Melodik, die als Nocturnes in die Musikgeschichte eingingen. Schumann sprach von „Nachtstücken“.
 
Bei Mendelssohn wurden daraus „Lieder ohne Worte“, die jetzt (op. 67 von 1845) gegenübergestellt wurden. Mendelssohn hatte sie zunächst „Romanzen fürs Pianoforte“ oder auch „Clavierstücke“ genannt. Unterschiedlichste Stimmungen werden damit erfaßt. Bei Nr. 2, einem Allegro leggiero im 12/16 Takt, stimmen 4 Takte dahingetupfter Sechzehntel – daraus wird später die Begleitung gebildet- auf das Liedthema ein. Leggiero bedeutet spielerisch leicht. Mit elegantem wie noblem Spiel deutete Jan Lisiecki alle Aspekte und Stimmungen dieser Lieder aus. J.W. von Goethe sei hier zitiert, der damals zwar Mendelssohn gemeint hatte, als er vom „kräftig zarten Beherrscher des Pianos“ sprach. Heute meinen wir aber Jan Lisiecki.

Die Ballade Nr. 4 in f-Moll und im 6/8 (1842) von Frederic Chopin ist Mademoiselle Charlotte de Rothschild gewidmet, in deren Pariser Salon er immer wieder gespielt hat und etliche reiche Schülerinnen akquirieren konnte. Welche Geschichte wird hier erzählt? Das ist keine Nocturne und kein Lied ohne Worte. Elegisch und lyrisch beginnend, nimmt die musikalische Erzählung an Dramatik und Komplexität zu, wenn verschiedene Episoden nahezu improvisatorisch gereiht werden, wenn aus Terzparallelen, Sextparallelen werden, wechselnde Tempi für Aufregung sorgen, und rasche Sechzehntel-Triolen im modifizierten 2 gegen 3 Rhythmus zunehmend beunruhigen. Hier wird ganz deutlich, daß Lisieckis pianistische Seele im linken Bein angesiedelt ist, welches er in Abhängigkeit von der musikalischen Intensität immer wieder streckt und anwinkelt. Indem der linke Fuß unter den Klavierhocker wandert, kann der Pianist sich leicht vom Stuhl erheben und gebeugt wie ein Flitzebogen der Spannung nachspüren. Gelegentlich wechselt das linke Bein aber auch geschwinder zwischen Beugung und Streckung. Die Bewegungen des anderen Fußes auf dem rechten Pedal sind dagegen nur zu hören. Aber zurück zur Ballade: Nach der Generalpause bleibt kaum Zeit zum Atemholen, bevor Sechzehnteltriolen wieder geschwind davon und durch verschiedene Tonarten jagen, sich zuletzt zu beidhändigem Unisono vereinigen und mit vier Akkordschlägen das Stück zu Ende kommt. Hoch virtuos, formal frei toben sich Komponist wie Pianist hier aus. Merkwürdig, daß sich Chopin im wesentlichen auf die Klaviermusik beschränkt hat. Solche Musik von großem Sinfonieorchester gespielt, hätte sich auch was. Das Publikum war hier nicht mehr zu halten spendete Sonderapplaus und fragte sich, wie viele Töne wohl der Pianist an einem solchen Abend zum Klingen bringt.
 
Zum Schluß dann die Die Variations sérieuses op. 54, wohl Mendelssohns pianistisches Hauptwerk. Es entspricht vom Umfang her der Hälfte der 33 Diabelli-Variationen von Ludwig van Beethoven. Der Bezug ist nicht zufällig. Diese „ernsthaften Veränderungen“ waren bestimmt für ein Beethoven-Album, dessen Verkaufserlös gedacht war für das Denkmal des Bonner „Postvorstehers“, wie das dortige Beethovendenkmal wegen seines Standortes vor der Hauptpost im Volksmund genannt wird. Das harmonisch wie rhythmisch hoch komplexe 16-taktige choralartige Thema wird vorgetragen, dann verändert und ausgedeutet: Auflösung des Themas in Sechzehntel, und Triolen piu animato in den ersten Variationen, später Verlegung desselben in die Mittelstimme, Fugato. Im Adagio der 14. beginnt die Konzentration auf das brillante Finale Furioso in rasendem Presto teilweise über tremolierendem Orgelpunkt. Dann ist aber Schluß. Nach wenigen Akkorden endet das Ganze im Pianissimo. Großer Applaus des begeisterten Publikums, wegen der aufzubehaltenden Corona-Masken nur matte aber zahlreiche Bravi, auch Blumen für den Pianisten. Da ließ er sich nicht länger bitten. So spielte er noch eine Etüde von Frederic Chopin (op. 10, Nr. 3) als Zugabe. Ein großer Klavierabend.