Klavierfestival Ruhr 2021

Igor Levit leibhaftig in Wuppertal

von Johannes Vesper

Igor Levit in Wuppertal - Foto © Peter Wieler

Klavierfestival Ruhr 2021
 
Igor Levit leibhaftig in Wuppertal
 
Programm:
Franz Schubert: Klavierstück in es-Moll D946 Nr. 1
Sinfonie Nr. 3 in Es-Dur op. 55 „Eroica“ (Transkription von Franz Liszt)
 
Er ist einer der erfolgreichsten und politischsten Pianisten unserer Zeit in Deutschland, der den Echo-Preis zurückgegeben hat, weil er dessen Verunglimpfung durch Antisemitismus und Geschmacklosigkeit nicht ertragen konnten. Für seine Hilfe bei der Bewältigung der Corona-Epidemie (tägliche Hauskonzerte im Stream) und dem Abbau von Vorurteilen in unserer Gesellschaft bekam er wie Christian Drosten und Mai Thi Nguyen-Kim das Bundesverdienstkreuz. Andererseits war er Angriffsziel der Süddeutschen Zeitung, die ihn politisch ob seines Eintretens gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus in seltsamer und vor allem entwürdigender Weise angegangen hat (16.10.2020). Die Chefredaktion mußte sich für diese unbegreifliche journalistische Entgleisung ihres erfahrenen Musikkritikers öffentlich entschuldigen.
 
Jetzt kam der große Pianist, der seit seinem 8. Lebensjahr in Deutschland wohnt, wieder in den Großen Saal der Historischen Stadthalle Wuppertal, hatte er doch im Mai geäußert: „Streams brauche ich nicht mehr, ich bin ihrer müde“. Da ist das Publikum sicher mit ihm einig. Zuletzt hörten wir ihn hier im Sept. 2018 mit Pathétique und Hammerklaviersonate. Inzwischen hat er zum Beethovenjahr alle 32 Klaviersonaten dieses von ihm so geschätzten Komponisten eingespielt (Sony Classical). Seit Jahren setzt er sich mit dessen zutiefst „menschlicher Musik“ auseinander. Daran wollte Franz Liszt, der ultimative Star des 19. Jahrhunderts anknüpfen, als er alle Sinfonien Beethovens für das Klavier bearbeitete. Der übliche Klavierauszug, also das Arrangement von Orchestermusik zum Kennenlernen, Proben oder Begleiten, schwebte ihm dabei natürlich nicht vor. Er wollte Orchester und Sinfonie mit den 88 Tasten des Flügels neu erfinden, hatte doch Beethoven, oft am Flügel sitzend, komponiert. Aber angehaltene Töne von Streichern oder Bläsern sind auf dem Klavier nicht ohne weiteres darstellbar. Der angeschlagene Ton des Klaviers verliert sofort an Klangintensität. Ein Crescendo auf einzelnen Tönen ist beim Klavier unmöglich, muß durch Triller oder Repetitionen simuliert werden. Und Liszt reicherte seine Klaviersinfonie nicht einfach mit Virtuosität an. Sie fordert aber kraftvolle Artistik und artet in Schwerstarbeit aus. Obwohl also die pianistischen Herausforderungen nicht jeden Pianisten locken, erwartet das Publikum so ein selten gespieltes Spektakel mit großem Interesse. Vielleicht kann Vertrautes in der verfremdeten Klavierfassung neu erlebt werden?
 
Zu Beginn aber begrüßte erst einmal Prof. Ohnesorg das Publikum, erinnerte an das letzte Konzert Lang Langs vor Corona im März an diesem Ort 2020 und daran, daß Igor Levit vor 10 Jahren zum ersten Mal und mit diesem Konzert zum 15. Mal beim Klavierfestival Ruhr auftritt.
 
Hoch konzentriert begann der Klavierabend mit Franz Schuberts Klavierstück in es-Moll D 946 Nr. 1 Allegro assai, eines der intimen Werke des Komponisten aus seinem letzten Lebensjahr, eines seiner letzten lyrischen Stimmungsbilder zwischen Resignation und Melancholie. Drängend, geschwinde packt das lebendige Klavierspiel dieses Ausnahme-Pianisten den Zuhörer in Gänze, dringt durch die Ohren tief ins Gehirn bzw. in Unbewußte vor allem auch mit zartestem Pianissimo (z.B. am Ende des A-Teils). Im ruhigen und nachdenklichen B-Teil scheint Franz Schubert (1797-1828) mit eingestreutem Sechzehntelläufen, rhythmischem „Herzzittern“ und klangvollen Mittelstimmen seinem Leben nachzuspüren, bevor mit aufbäumendem Bewegungssturm der Schlußteil ausbricht.
 

Igor Levit in Wuppertal - Foto © Peter Wieler

Die Eroica - sie dauert ca. 45 Minuten - von Ludwig van Beethoven (1770-1827) in der Transkription von Franz Liszt (1811-1886) spielt der Pianist nicht auswendig. Das Decrescendo des berühmten Eingangsthemas zu seinem Ende hin beglückt, während es später im Baß unwirsch grummelt. Beethovensche Dynamik entwickelt sich sodann bis hin zum Hochgeschwindigkeits-Forte-Fortissimo, in welchem wenige wohl unvermeidbare Unsauberkeiten fast untergehen Nach dem gewaltigen 1. Satz bedenkt das Publikum den erholungsbedürftigen Pianisten mit Zwischenapplaus
Im berühmten Trauermarsch des 2. Satzes klingt der Flügel subtiler, distinguierter vor allem in leiseren Passagen. Endlich endet der Satz in Beethovenscher Unendlichkeit.
 
Nach den ersten Takten des 3. Satzes bricht der Pianist tatsächlich ab und beginnt von neuem. Weil das die schönsten Takte der Sinfonie sind? Nein, so etwas passiert. Das ist menschlich. Auch in diesem Scherzo kommt es bei gewaltigem FF wieder zu akustischen Problemen bei der Benutzung des Pedals. Die „Steinway-Hörner“ sind mit den originalen wirklich nicht vergleichbar. Der Konzertflügel reicht bei sinfonischer Musik an die Orchesterfassung nicht heran.
 
Die schnelle Eröffnung des 4. Satzes rauscht mit viel Pedal herunter, bevor dieser sich zunächst wie eine Beethovensche Bagatelle differenziert und distinguiert bis hin zum temperamentvollen „al hungarese“ entwickelt. Hier wird besonders deutlich, wie das Klavier bei der Lisztschen Sinfonie an die Grenzen seines Ausdrucks kommt, wenn durch Vibrato beseelte Streichertöne, ersetzt durch Flügeltriller, ihre Seele verlieren. Nach PP wie im Fernwerk einer Orgel und furios-brausender Schlußapotheose ist das konzert-entwöhnte Publikum jedenfalls begeistert von dieser pianistisch-akrobatischen Großtat. Nach heftigem Applaus, Bravi und Blumen gibt es eine versöhnliche Zugabe und das Publikum demaskiert sich nach dem einfach herrlichen, kleinen „Tanz der Puppen“ von Dimitri Schostakowitsch gerne. Von Münster bis Bonn bzw. vom Hochsauerlandkreis bis Aachen waren die Fans gekommen.