Der Primgeiger

von Joseph Roth
Der Primgeiger
 
Das Kaffeehaus, ausgestattet mit allen Einrichtungen, die vielleicht zu seinem Betrieb nötig waren, wenn es überhaupt einen hätte, ist erfüllt von einer prächtigen komfortablen und luxuriösen Leere. Auf den niederen rotsamtnen Fauteuils sitzt sie, hingegossen, ein geschwelltes, üppiges Nichts. Über die kleinen viereckigen und niederen Tischchen aus gläsernen Platten, umrahmt von einem nach modernsten Verfahren verchromten Metall, streicht sie hin, die Leere, fließt über die blauen Tapetenwände und läßt sich von dem strahlenden Glanz der neusachlichen Lampen bestrahlen, die beleuchteten Zigarrenkisten aus matten Glasscheiben so verblüffend ähnlich sehn. An den Zuckerdöschen aus dunkelblauem Kristall lehnen unberührt die silbern schimmernden Zangen, Verwandte der benachbarten metallenen Aschenbecher, an denen noch niemand die Zigarren-Asche abgestreift hat. Kellner wandeln durch den Raum, die Leere zu bedienen, die gar nichts bestellt. An der großen Registrierkasse steht regungslos ein Mädchen, wie ein schießbereiter Soldat neben einem Maschinengewehr. Ich bin der einzige Gast, aber ich verschwinde in der unermeßlichen Leere des umfangreichen Raumes und werde als ein unmoderner Gegenstand ignoriert von der modernen Einrichtung. Auf der Estrade, mir gegenüber, spielt seltsamerweise eine Musikkapelle.
       Eine kleine Kapelle, man nennt es Quartett. Der erste Geiger, frohgemut in einem festlichen Smoking, läßt von Zeit zu Zeit die Geige aus der Klammer gleiten, die er aus Kinn, Kragen und steifem Hemd für sein Instrument hergestellt hat, hebt den rechten Arm mit dem Bogen, klopft auf das Notenpult, streichelt mit sanfter Lackschuhsohle das Brett der Estrade, auf dem er steht, lächelt mit entblößten, schönen Inseraten-Zähnen aus schneeweißem Marmor, neigt den Kopf mit dem glatten Ebenholzhaar, das ein schmaler Strich, wie ein weißer Zwirn, in der Mitte in zwei gleiche Hälften schneidet, und benimmt sich genauso, als wenn das Lokal von Gästen erfüllt wäre. Wie er so dasteht, tannenschlank und volledel, ein Musterexemplar der Geigergattung, ein Liebling des nicht vorhandenen Publikums und besonders seiner selbst, nimmt er sich ganz einmal- und erstmalig aus, und mir ist, als hätte ich noch niemals vorher einen ersten Konzertgeiger gesehen. Es ist, als steigerte die völlige Leere im Kaffeehaus die gewöhnliche Eitelkeit, die einen Kapellmeister ausmacht, zu einem exhibitionistischen Exzess, und die Zwecklosigkeit dieser Eleganz, die das Geigenspiel einrahmt, umrankt und verbirgt, entwickelt sich zu der pathologischen Haltung eines Irren, einer Art Paranoia der Mondänität. Einbezogen in sie und von ihr beinahe verschluckt, wird nicht nur die Musik, die der Geiger selbst erzeugt, sondern auch jene, die von den drei andern Mitgliedern der Kapelle ausgeht, so daß alle »Konzertstücke« anfangen, eher eine visionelle als eine akustische Wirkung auszuüben - - als hätten sie sich in dem physiologischen Sinn geirrt, für den sie eigentlich bestimmt Waren. Wie von tausend Hohlspiegeln widergeglänzt und vergrößert, erscheint in dem überflüssigen Lokal, in dem sich die Leere so viel wohler fühlt als ich, die überflüssige Eleganz eines ersten Musiksmokings, diese übertroffene, wenn auch urbanisierte Noblesse eines Zigeunerprimas, und dem ruhenden Luxus der Zuckerzangen, mit denen nur Akrobaten hantieren können, entspricht der eifrig bewegliche Luxus eines Geigenhalters, der sich sozusagen in Lüsten windet. Es scheint, daß er die ganze unaussprechliche Süße der Wohllaute in seinem Innern vernimmt, die er leider nicht produziert, und er ist also eine Art von Primlauscher und kein Primgeiger.
       Dann beendet er mit einem kühnen Entschluß das Musikstück, als wäre es nicht von selber zu Ende gegangen, wenn er nicht mit ausgebreiteten Händen den Schluß befohlen hätte, den üblichen Tusch, in dem alle Konzertstücke münden müssen wie Flüsse im Meer. Er verneigt sich vor der Leere. Seine Augen und seine Zähne glänzen dankbar ins Nichts, und es scheint, daß ihm die Leere applaudiert. Es ist unheimlich still, und man denkt an eine Luxusgruft. Der Geiger setzt sich, zieht ein seidenes gebatiktes Tuch aus Kunstgewebe und wischt sich den imaginären Schweiß von der Stirn. Das Instrument hält er zwischen den Knien, wie ein Friseur einen Kopf aus Holz, auf dem Perücken hergestellt werden. Es ist Pause.
 
Joseph Roth

 

Quelle: „Das literarische Orchester“, Reclam Verlag 2021