Das Antlitz Hamlets

von Karl Lerbs

© 1957 Carl Schünemann Verlag
Das Antlitz Hamlets
 
Daß aus der erlesenen Kunst genialer Menschenformung, über alle Symbolkraft verkörpernder Darstellung hinaus, in seltenen Augenblicken die Urkraft des Gefühls wie eine Flamme übermächtig hervorzubrechen vermag, in der die Umwelt auf der Bühne zu Asche und Schlacke verbrennt, bewies einmal Edwin Booth, Amerikas größter Deuter Shakespearescher Gestalten.
 
     Als er in einer Neueinstudierung den Hamlet probte, wurde die Rolle des Geistes kurz vor der Aufführung umbesetzt und einem alten Mimen anvertraut, der dem erlauchten Schauspieler noch niemals auf der Bühne gegenübergestanden hatte. Während der letzten Proben ging alles leidlich und ohne nennenswerte Abweichungen vom Üblichen; Booth hatte mit kundiger Hand die Aufführung zu einem fugenlosen, von seinem Willen lebendig gelenkten Zusammenspiel geordnet, das er sich umsichtig dienstbar machte, aber er selbst hielt sich merklich zurück.
     Der alte Mime atmete mit Behagen die heimatliche Luft sauberer Klassikertradition und fühlte sich wohl in der grauen Eisenrüstung des königlichen Gespenstes. Er war, das wußte er, durchaus imstande, mit der rechten Mischung aus gruseliger Unheimlichkeit und majestätischer Würde in das geisterhafte Blaulicht zu treten und in makabren Tönen die schauerlichen Enthüllungen Vernehmen zu lassen, die seinen Sohn vor die beklemmende Aufgabe stellten, die aus den Fugen geratene Welt einzurenken. So etwas lag ihm. Das konnte er. Denn er wußte, was das ist: Theater.
     Befriedigt vernahm er am Abend der Aufführung das hörbar stöhnende Ausatmen, gefolgt von starrer Stille - die Anzeichen dafür, daß seine Erscheinung den Zuschauerraum in Bann schlug. Mächtig aufragend, auf dicken Filzsohlen geräuschlos gleitend, von der Kunst des Beleuchters in den gespenstisch glimmenden Schimmer der Fäulnis und der Verwesung gehüllt, beherrschte er die Szene, und er war auch völlig einverstanden mit der Art, wie Dänemarks Soldaten auf der Terrasse sich mit dem Spuk auseinandersetzten. Dagegen erfüllten ihn, als er zum zweiten Male die Terrasse betrat, Hamlets Erscheinung und Stimme mit Befremden und Mißtrauen. Dieser übermäßig mager wirkende, von unablässiger Spannung verkrümmte, in ein unrastiges Vibrieren gezwungene Körper, diese wie aus grüblerischer Ferne herklingende, von Hohn und Haß und Selbstquälerei zerrissene Stimme - das war eine neue Art der Darstellung, unerwartet und sozusagen gegen die Abrede, da sie die Gestalt des vieldeutigen Dänenprinzen aus den Bezirken des berechenbar Komödiantischen in eine gefährliche Welt des unberechenbar Menschlichen verschob. Der alte Mime empfand das nur wie ein dunkles Unbehagen, als er sich dem abgewendet stehenden Sohn näherte; und er sagte sich, daß seine Rolle ihn gegen solche Stegreifkünste des berühmten Gastes ausreichend schützte. Da aber wandte sich Hamlet, von Horatios Anruf herumgerissen, mit jähem Ruck der Erscheinung zu: und der unselige Geist stand gelähmt. Er sah nicht die Bühne mehr, nicht das Rampenlicht, nicht das dunkle Schattengewölbe des Zuschauerraumes. Er sah nur noch ein Antlitz, nicht das Antlitz des Schauspielers Edwin Booth - Hamlets Antlitz, kalkweiß, erstarrt zu einer grauenhaften Maske des Entsetzens, versteint vom Anblick bluterstarrender Gewißheit nach langer Ahnung; sah einen verzerrt aufgerissenen Mund, der einen Aufschrei formen wollte und nur ein pfeifendes Ächzen hervorbrachte; sah zwei Augen, die in diesen Sekunden erblindeten, da im Angesicht des für Menschenblicke Unschaubaren das Bild der Welt in ihnen mit sengender Flamme zu Asche verbrannte. Dieser unbegreiflichen Umkehrung der Kräfte hielt der Geist des Königs nicht mehr stand; er wandte sich um, in diesem Augenblick nur noch ein hilfloser alter Schauspieler in lächerlicher Maske, und flüchtete in die schützende Kulisse.
 
Karl Lerbs

(Edwin Booth * 13. November 1833 bei Belair, Maryland; † 7. Juni 1893 in New York City)