Ein ernster Abend und eine würdige Erinnerung an Luigi Nono

Luigi Nono „Intolleranza 2021“

von Johannes Vesper

Oper Wuppertal, Intolleranza - Foto © Bettina Stoess

Luigi Nonos „Intolleranza 2021“

im Wuppertaler Opernhaus
 
Handlung in zwei Teilen von Luigi Nono nach einer Idee von Angelo Maria Ripellino. In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln.
 
Musikalische Leitung: Johannes Harneit. Inszenierung: Dietrich W. Hilsdorf. Bühne: Dieter Richter, Kostüme: Nicola Reichert. Video: Gregor Eisenmann. Chor: Markus Baisch. Einstudierung Chorwerk Ruhr: Sebastian Breuing
Besetzung: Ein Emigrant: Markus Sung-Keun Park, Seine Gefährtin: Solen Mainguené.Eine Frau: Annette Schönmüller, ein Algerier: Simon Stricker, ein Gefolterter: Sebastian Campione.Ein Körper: Andrej Berezin, Polizei: Katharina Greiß, Tanja Ball, Marco Agostini, Tomasz Kwiatkowski. Opernchor der Wuppertaler Bühnen. Chorwerk Ruhr, Statisterie der Wuppertaler Bühnen. Sinfonieorchester Wuppertal.
 
Gastarbeiterelend, Unterdrückung bis zur Folter, Verletzung der Menschenwürde: mit diesen Fragen beschäftigte sich Luigi Nono 1960 zur Zeit des Algerienkriegs. 2020 wurde diese Oper im Barmer Opernhaus in Verbindung mit dem Engelsjahr 2020 aktualisiert und jetzt als „Intolleranza 2021“ aufgeführt (Premiere).
Vor Beginn begrüßt OB Uwe Schneidewind das Publikum, welches aus ca. 25 eingeladenen und negativ getesteten Pressevertretern besteht. Er spricht von der gesellschaftlichen Relevanz der Oper für die Stadtgesellschaft, hofft und wünscht, daß sie immer wieder Denkanstöße, wie sie von diesem Werk ausgehen, und großem Publikum liefern kann.
 

Oper Wuppertal, Intolleranza - Sebastian Campione - Foto © Bettina Stoess

Luigi Nono (1924-1990) erzählt die Geschichte eines Minenarbeiters, der seine Lebensbedingungen nicht mehr ertragen kann. Er will nach Hause und flieht, gerät auf der Flucht in eine große Stadt und dort in eine Friedensdemonstration, wird von der Polizei verhaftet, gefoltert und in ein Konzentrationslager verbracht. Gefolterte und Gefangene wenden sich im Chor an das Publikum, beklagen, daß es „wie Herdenvieh im Pferch der Schande“ untätig bleibe. Er freundet sich mit einem Algerier an, sie fliehen. Im 2. Teil geht es zunächst um Bürokratie („Dokumente sind die Seele des Staates“) und absurde Presse. Eine Frau singt gegen Krieg und Unheil. Gemeinsam wollen sie beide für eine bessere Welt kämpfen. Im Alptraum erlebt der Held sein Bergarbeiterdorf, sieht die Frau, die er dort verlassen hatte, erlebt träumend wieder Fanatismus und Intoleranz. Endlich erreichen sie den großen Fluß an der Grenze zu seinem Heimatland. Gegen das zunehmende Hochwasser, gegen dessen „Sintflut“ kommen sie nicht an und der Coro finale stimmt Bertolt Brechts : „An die Nachgeborenen“ an.
Im Libretto werden darüber hinaus Texte und Gedichte von Julius Fucik, Henri Allegs, Jean Paul Sartre, Paul Éluard, Wladimir Majakowski und Bertolt Brecht verarbeitet.
 

Oper Wuppertal, Intolleranza - Markus Sung-Keun Park, Simon Stricker - Foto © Bettina Stoess

Und was passiert in Barmen mit dem Stück? Bereits vor dem eigentlichen Beginn eilen, schemenhaft erkennbar, weiß Gewandete hinter dem Vorhang eilig über die Bühne. Minutenlang, dann wird es dunkel und man erkennt Männer und Frauen in blutig beschmierter Schutzkleidung mit Gummistiefeln. 2021 ist vom Bergbau keine Rede mehr. Die Minen mutierten zu Fleischfabriken. Der Chor singt aus dem Off, sehr langsam hebt sich der schwarze Vorhang. Es erscheint das schäbige Zimmer des Protagonisten. Containerbleche bilden die Wände. Die beiden Fenster im Hintergrund sind durch Jalousien verschlossen. Der Protagonist wälzt sich links auf dem unordentlichen Bett, beginnt zu singen, beklagt die Unerträglichkeit des Seins. Eine Fleischzerlegerin singt von schwarzer Liebe, ist enttäuscht, daß er nach Hause will, obwohl sie für ihn „ihren Schoß geöffnet“ hat und „ihre Augen für ihn die einzigen Lampen in diesem Elend“ gewesen sind. Hinter den jetzt hochgezogenen Rollladen erscheinen weiße Wolken in blauem Himmel. Bildwechsel:. Dramatisch stürmen Demonstranten mit roten Fahnen auf de Bühne, die dank Lichtprojektionen an Tiefe, Höhe und Bewegung gewinnt. Georg Eisenmann hat diese Lichtspiele entworfen. Unter lauter und gewalttätiger Musik stürmen und prügeln Polizisten auf Demonstranten los. Bildwechsel: Der Protagonist singt sich die Seele aus dem Leib unter einem ihm über den Kopf gestülpten roten Eimer. Bedrohlich schwarze Polizisten stehen unangreifbar um ihn herum, schrecken auch vor Elektroschocks nicht zurück, trinken unter Schreien noch anderer Gefolterter ein Gläschen Sekt. Welche „Schuld“ eingestanden werden soll, bleibt unklar. Der Chor singt inzwischen aus dem 1. Rang. Schlagzeug tönt von der Hinterbühne, Blechbläser ebenfalls aber von höher. Streicher, Celesta und Harfe lassen sich aus dem Orchestergraben vernehmen und die Holzbläser vom ersten Rang. Und nur wir als Kritiker bzw. Pressevertreter dürfen mittendrin diesen mehrdimensionalen Raumklang erleben. Schade. Im Stream wird das kaum adäquat darzustellen sein. Die musikalische Komplexität des Stückes und der Inszenierung erfordert zwei Dirigenten. Der erfahrene Kenner zeitgenössischer Musik Johannes Harneit leitet den hochkomplexen musikalischen Apparat aus dem Orchestergraben heraus, während Stefan Schreiber die Koordination mit Blech und Schlagzeug (zum Teil Studenten der Hochschule für Musik Wuppertal) hinten auf der Bühne besorgt. Die Laufzeitdifferenz des Klangs bei diesen Entfernungen überkommen die beiden souverän. Das Chorwerk Ruhr und der Opernchor gestalten die musikalische Kakophonie glänzend.
 

Oper Wuppertal, Intolleranza - Andrey Berezin - Foto © Bettina Stoess

Inzwischen tanzt als Alter Ego des Protagonisten Andrey Berezin (Tanztheater Pina Bausch) die Folter auf der Bühne zu Trommelwirbeln und Orchesterschlägen. Zuckungen, Verkrampfungen, Verzerrungen, motorische Anfälle bieten dem Opernbesucher eine verstörende Teilhabe. Zuletzt kriecht er ins Spind. Bildwechsel: Die Flucht aus dem Zuchthaus ist gelungen, eine Frau singt vom Wunder der Natur und der Liebe, singt von fröhlichen Golddrosseln und hat Möhreneintopf gekocht. „Im Lächeln einer Frau kann die Welt leuchten“? Selbst die die Verflossene scharwenzelt im Sommerröckchen über die Bühne. Heimat ist inzwischen kein Ziel mehr, sondern Freiheit. Während „der Rauch von Hiroshima in 1000 rasenden Nerven strömt“ wird auch musikalisch die Spannung gehalten. Der Stille war der Komponist in seinem 1. Streichquartett („Stille-an Diotima“) in besonderer Weise verpflichtet. Hier nicht mehr. Seine radikal Neue Musik - er war von den Darmstädter Ferienkursen geprägt - , bleibt für den Zuhörer auch nach 60 Jahren eine Herausforderung, obwohl Markus Sung-Keun Park, Solen Mainguené, Annette Schönmüller, Simon Stricker und Sebastian Campione stimmlich und emotional stark beeindrucken. Besonders Markus Sung-Keun Park als Protagoginist bewältigt diese nach Tonumfang und Dynamik höchst schwierige Partie großartig. Dieter Hilsdorf (Regie), Dieter Richter (Bühnenbild) und Nicola Reichert (Kostüme) bringen dieses hochpolitische und ernste Stück von 1960 in unsere Gegenwart heute. Ein ernster Abend und eine würdige Erinnerung an den 30. Todestag von Luigi Nono (1924-1990). Dringend empfohlen! 
 
Was hat das mit Engels zu tun? Selbst eher Bonvivant, Rotweinkenner, zu Fuß bei der Weinlese durch Burgund wandernd, erfolgreicher Unternehmer, feierte er seinen Eintritt in den Ruhestand mit Champagner. Er kannte zwar nicht die Lage rumänischer Fleischarbeiter in den Fleischfabriken Westfalen, jedoch immerhin die Lage der arbeitenden Klasse in England.
 
›Intolleranza 2021‹
Handlung in zwei Teilen von Luigi Nono nach einer Idee von Angelo Maria Ripellino. In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln.
Onlinepremiere: Fr. 18. Juni 2021, 19:30 Uhr im Stream. Weitere Termine:Sa. 26. Juni 2021, 19:30 Uhr im Stream, Fr. 02. Juli 2021, 19:30 Uhr im Stream, Fr. 13. August 2021, 19:30 Uhr im Stream, Fr. 27. August 2021, 19:30 Uhr im Stream.
Weitere Informationen und Tickets unter oper-wuppertal.de/intolleranza. Der Vorverkauf endet jeweils 1 Stunde vor Beginn