Friede den Hütten, Krieg den Palästen

Ella Theiss – „Darmstädter Nachtgesänge“

von Frank Becker

„Friede den Hütten, Krieg den Palästen“
 
Die Gedanken sind frei.
 
Darmstadt, 1834. Großherzog Ludwig II. von Hessen-Darmstadt hält zur Zeit der deutschen Kleinstaaterei in seinem Machtbereich mit Hilfe seines Ministerpräsidenten Karl du Thil und eines Polizei- und Spitzelapparates das Volk, zumal die einfachen Stände unter einer harten Knute. Wer das beim Namen nennt, seine Meinung frei äußert, gar aufbegehrt, wird inhaftiert und trotz Verbot gefoltert. Jeder ist verdächtig, und eine Strafprozeßordung wie die 1877 eingeführte existiert nicht. Wer auffällt, ist der Willkür des Fürsten und seiner Schergen ausgeliefert. Doch Widerstand regt sich, vor allem unter der Jugend und unter Studenten, die nach der Befreiung von der französischen Unterdrückung nun auf die Freiheit der Meinung und auf gleiche Rechte für alle drängen. Zu jenen, die sich besonders engagiert für Freiheit und Gleichheit einsetzen gehört der Student Georg Büchner, Sohn eines angesehenen Darmstädter Arztes. Er und seine Gesinnungsfreunde gründen die Gießener Burschenschaft Germania, beteiligen sich an einer Gesellschaft für Menschenrechte und publizieren Flugschriften gegen die feudale Unterdrückung, deren bis heute bekannteste Büchners „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ wird. Bald wird er von der Polizei gesucht und muß ins Ausland fliehen.
 
Ella Theiss entwirft in ihrem in den Jahren 1834-1836 spielenden, auf historischen Fakten und ebenso historischen Personen fußenden Roman „Darmstädter Nachtgesänge“ ein entromantisiertes Bild der z.B. auf den Gemälden von Carl Spitzweg (1808-1885) idyllisch idealisierten oder von Johann Peter Hasenclever etwas kritischer dargestellten Zeit des Biedermeier, in diesem Zusammenhang besser Vormärz genannt, liegt doch die bürgerliche Revolution von 1848 bereits in der Luft. Ins Zentrum stellt sie nicht den Revolutionär Büchner sondern das fiktive Hausmädchen der Büchners, Anna, die aus einfachen Verhältnissen kommend im Umgang mit klarsichtigen jungen Menschen das Unrecht des Feudalismus, die Unterdrückung der Frauen, die Rechtlosigkeit der Armen und die Willkür von Justiz und Polizei zu erkennen beginnt. Diesen Prozeß des Erwachens verknüpft Ella Theiss mit einem überlieferten Kriminalfall, dem des „Holzfrevlers“ Jacob Trumpfheller, der des Mordes an dem gräflichen Förster Lust beschuldigt, jahrelang in Haft gehalten wird. Anna glaubt an seine Unschuld und hofft mit Hilfe des jungen Journalisten Oscar Weiß das zu beweisen. Sie vermutet, daß ihr Cousin Rodrich der Mörder ist, dem sie unter Druck anfangs ein falsches Alibi gegeben hat.

Mit wunderbarer Sprache, in die biedermeierliches Vokabular eingeflochten ist, mit Zitaten aus zeitgenössischen Dokumenten (die leider in hellgrau nur schwer leserlich abgesetzt sind) und im Detail sensibel nachempfundenen Zeitkolorit zeichnet Ella Theiss ein ungemein lebendiges, griffiges Bild jener Phase des Aufbruchs, die der schließlichen März-Revolution vorausgegangen ist. Sie läßt ohne jede Heldenverklärung den mit geringen, doch effektiven (wenn auch gefährlichen) Mitteln geführten Kampf um intellektuelle wie körperliche Freiheit nachvollziehbar werden. Ob es das heute noch von Studentenverbindungen gepflegte Volkslied „Die Gedanken sind frei“ ist, das im Chor vor dem Arresthaus in nächtlichen Gesängen angestimmt wird, ob heimliche Flugschriften angefertigt werden oder Frauen durch das Tragen blauer Strümpfe und offenem Har auf ihre Rechte aufmerksam machen – es sind Nadelstiche gegen die großherzogliche Unterdrückung. Daß Ella Theiss auch eine humorvoll verzwickte Liebesgeschichte um Anna und Oscar einbaut, gibt dem ohnehin lesenswerten Roman eine besonders charmante, augenzwinkernde Seite.
Das Buch ist purer Lesegenuß, wird von den Musenblättern sehr empfohlen und bekommt unsere Auszeichnung, den Musenkuß.
 
Ella Theiss – „Darmstädter Nachtgesänge“
Historischer Roman um Georg Büchner und den Vormärz
© 2021 Edition Oberkassel, 386 Seiten, Broschur - ISBN: 9783958132320
13,- €
 
Weitere Informationen: www.editionoberkassel.de